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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 14.09.2023

Soziale Pflegeversicherung – Begutachtung

Verfasst von: Olav Götz, Astrid Loßin und Birte Schöpke
Alle gesetzlich und freiwillig versicherten Personen in der gesetzlichen Krankenversicherung fallen unter den Schutz der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI). deren Aufgabe von den jeweils zuständigen gesetzlichen Krankenkassen wahrgenommen werden. Wer privat krankenversichert ist, muss der privaten Pflegepflichtversicherung beitreten, die bei seiner Krankenversicherung angesiedelt ist. Pflegebedürftig im Sinne § 14 Abs. 1 und 2 SGB XI sind Personen, die auf Dauer (mindestens für sechs Monate) in ihrer Selbstständigkeit oder in ihren Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Die Beeinträchtigungen müssen körperlich, kognitiv oder psychisch bedingt sein oder es müssen gesundheitliche Belastungen vorliegen, die nicht selbst bewältigt werden können. Leistungen der Pflegeversicherung werden nur gewährt, wenn vorher eine Antragstellung erfolgt.
Die die Pflegebedürftigkeit betreffenden Beeinträchtigungen werden in sechs gesetzlich geannten Bereichen beurteilt. Entsprechend der Art, der Häufigkeit und des zeitlichen Umfangs des Hilfebedarfs wird der Pflegebedürftige einem der Pflegegrade 0–5 zugeordnet, wobei nicht die Erkrankung, sondern allein der jeweilige Hilfebedarf entscheidend ist. Die Feststellung, ob und in welchem Umfang Pflegebedürftigkeit vorliegt, erfolgt im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung durch den Medizinischen Dienst bzw. im privaten Versicherungsbereich durch die Fa. Medicproof GmbH nach gleichen Grundsätzen. Der Beitrag behandelt den Aufbau der Pflegeversicherung wesentlichen Leistungen sowie die maßgeblichen Begutachtungsgrundlagen.

Einleitung

Die sich stetig verändernde Altersstruktur der Bevölkerung Deutschlands und die sich wandelnden familiären Strukturen sowie die immer effektiver werdenden therapeutischen Möglichkeiten der modernen Medizin bringen es mit sich, dass mehr und mehr Menschen im Alter nicht mehr ohne fremde Hilfe und häufig nicht mehr ohne Pflege auskommen. Das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherungsgesetz – PflegeVG) trat am 1. Januar 1995 als Elftes Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung- (SGB XI) in Kraft. Erstmals wurde damit ein Versicherungsschutz bei Pflegebedürftigkeit für nahezu die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik in einem eigenständigen Sozialversicherungszweig eingeführt (§ 1 Abs.1 SGB XI)
Alle gesetzlich und freiwillig versicherten Personen in der gesetzlichen Krankenversicherung fallen unter den Schutz der sozialen Pflegeversicherung (§ 1 Abs. 2 SGB XI). Träger der sozialen Pflegeversicherung sind die Pflegekassen, deren Aufgabe von den jeweils zuständigen gesetzlichen Krankenkassen wahrgenommen werden (§ 1 Abs. 3 SGB XI). Wer privat krankenversichert ist, muss der privaten Pflegepflichtversicherung beitreten, die bei seiner Krankenversicherung angesiedelt ist (Stier 2022; § 1 Abs. 3 SGB XI). Beide Zweige gelten als selbstständige Teile der gesetzlichen Pflegeversicherung. Leistungsrahmen und Leistungsvoraussetzungen sind jeweils identisch. Die Vergütung ambulanter und stationärer Pflegeleistungen ist unabhängig vom zuständigen Versicherungsträger nach gleichen Grundsätzen zu bemessen (§§ 84 ff und §§ 89 ff SGB XI) und wird von den zuständigen Pflegesatzkommissionen auf Länderebene festgesetzt, an denen die Verbände der gesetzlichen und privaten Pflegekassen beteiligt sind. Eine Differenzierung nach Kostenträger ist kraft Gesetzes unzulässig.
Die Ausgaben der Pflegeversicherung werden durch Beiträge der Mitglieder und der Arbeitgeber finanziert. Die Beiträge richten sich nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder. Für versicherte Familienangehörige und eingetragene Lebenspartner (Lebenspartner) werden Beiträge nicht erhoben (§ 1 Abs. 6 SGB XI). Wegen weiterer Details wird auf den Beitrag „Gesetzliche Krankenversicherung“ verwiesen.
Unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage hat jeder Versicherte einen Rechtsanspruch auf Hilfe bei Pflegebedürftigkeit (§ 1 Abs. 4 SGB XI). Die Pflegeversicherung hat allerdings im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht das Ziel, die gesamten notwendigen Kosten des Bedarfs vollständig zu übernehmen. Über die gesetzliche Pflegeversicherung hinaus besteht deshalb die Möglichkeit, das Pflegerisiko im Rahmen privater Vorsorge zusätzlich abzusichern.
Grundsatz: „Reha vor Pflege“
Um Pflegebedürftigkeit zu mindern oder ihr Fortschreiten zu verhindern, sind die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation, aber auch aktivierende und rehabilitative Elemente der Pflege gezielt einzusetzen. Als Grundsatz gilt: Vorrang von Prävention und Rehabilitation vor der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen: „Reha vor Pflege“ (Bundesgesundheitsministerium 2023a). Im Rahmen der Prüfung der Pflegebedürftigkeit besteht deshalb in jedem Einzelfall die Verpflichtung zur Prüfung und Durchführung der notwendigen und zumutbaren Maßnahmen zur Rehabilitation.

Leistungsberechtigte

Pflegebedürftig im Sinne § 14 Abs. 1 und 2 SGB XI sind Personen, die auf Dauer (mindestens für sechs Monate) in ihrer Selbstständigkeit oder in ihren Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Die Beeinträchtigungen müssen körperlich, kognitiv oder psychisch bedingt sein oder es müssen gesundheitliche Belastungen vorliegen, die nicht selbst bewältigt werden können.
Leistungen der Pflegeversicherung werden nur gewährt, wenn vorher eine Antragstellung erfolgt ist und beginnen frühestens mit dem Datum der Antragstellung (§ 33 Abs. 1 SGB XI).

Pflegebedürftigkeit (Bereiche)

Die die Pflegebedürftigkeit betreffenden Beeinträchtigungen werden in den folgenden sechs Bereichen beurteilt (gem. § 14 Abs. 2 SGB XI):
1.
Mobilität: Positionswechsel; Sitzen; Fortbewegung
 
2.
Kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen; sich Orientieren und Erinnern; Steuern von Handlungen; Treffen von Entscheidungen; Verstehen; sich Mitteilen; Beteiligung am Gespräch
 
3.
Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorische Auffälligkeiten; Unruhe; (Auto-)Aggression; Beschädigen von Gegenständen; Abwehrhandlungen; Ängste; Wahnvorstellungen; Antriebslosigkeit; inadäquates Verhalten
 
4.
Selbstversorgung: Waschen; An- und Ausziehen; Nahrungszubereitung; Essen und Trinken; Toilettengang; Umgang mit Inkontinenz, Stoma und Sondennahrung
 
5.
Bewältigung von krankheits- und therapiebedingten Anforderungen medizinischer Maßnahmen
 
6.
Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Tagesablauf; Ruhen und Schlafen; sich Beschäftigen; Planungen; Kontakte
 
Die Pflegbedürftigkeit muss auf Dauer, das heißt für mindestens sechs Monate bestehen (§ 14 Abs. 1 SGB XI).

Pflegegrade (Definition)

Entsprechend der Art, der Häufigkeit und des zeitlichen Umfangs des Hilfebedarfs wird der Pflegebedürftige einem der folgenden Pflegegrade gem. § 15 Abs. 2 SGB XI zugeordnet:
  • Pflegegrad 0: Keine Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten
  • Pflegegrad 1: Geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
  • Pflegegrad 2: Erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
  • Pflegegrad 3: Schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten
  • Pflegegrad 4: Schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
  • Pflegegrad 5: Schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten, die mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung einhergehen (Bundesgesundheitsministerium 2023b).

Gewichtung der Bereiche (Module)

Für die Anerkennung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu einem der Pflegegraden ist nicht die Erkrankung sondern allein der Hilfebedarf in den oben genannten sechs Bereichen maßgeblich. Die Bereiche gehen dabei gem § 15 Abs. 2 SGB XI mit unterschiedlicher Gewichtung in die Begutachtung ein:
  • Das Modul „Mobilität“ (1) wird mit 10 % gewichtet.
  • Die Bereiche „kognitive und kommunikative Fähigkeiten“ sowie „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“ (2 + 3) werden zu einem Modul zusammengefasst und mit 15 % gewichtet.
  • Das wichtigste Modul ist das Modul „Selbstversorgung“ (4). Es wird mit 40 % gewichtet.
  • Die „Bewältigung von und der selbständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen“ (5) zählt 20 %.
  • Die „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“ (6) fällt mit 15 % ins Gewicht.

Pflegebedürftigkeits- und Begutachtungsrichtlinien (Punktesystem)

Im SGB XI in Verbindung mit den Pflegebedürftigkeitsrichtlinien und Begutachtungsrichtlinien des GKV-Spitzenverbandes (vgl. MD 2023) werden die Voraussetzungen definiert, nach denen Versicherungsleistungen gewährt werden, wobei der tatsächliche Hilfe- und Pflegebedarf durchaus umfassender ausfallen kann. So gelten im häuslichen Bereich sämtliche Maßnahmen der Behandlungspflege – wie die Verabreichung von Medikamenten, die Blutdruckmessung, Einreibungen, Verbandwechsel etc. –, der medizinischen Rehabilitation, aber auch der beruflichen oder sozialen (Wieder-)Eingliederung nicht als Leistungsvoraussetzungen für die gesetzliche Pflegeversicherung. Für diese Bereiche stehen andere Kostenträger (gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung, Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz – BSHG) zur Verfügung. Diese erbringen Ihre Leistungen unabhängig bzw. ergänzt zu etwaigen Pflegelesitungen.
Die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit erfolgt in aller Regel durch GutachterInnen des Medizinischen Dienstes. Sollte in angemessener Frist seitens des Medizinischen Dienstes dafür kein Personal zur Verfügung stehen, können auch unabhängige Gutachter, die von der Pflegeversicherung vorgeschlagen werden, diese Aufgabe übernehmen (Simon 2021, S. 275).
Die begutachtende Person vergibt in den fünf Modulen nach festgelegten Kriterien für die modulrelevanten Fähigkeiten der antragstellenden Person Punkte. Diese werden mit der entsprechenden Gewichtung versehen. Die erreichbare Höchstpunktzahl beträgt 100 Punkte. Bei Erreichen einer Punktzahl von über 90 wird der Pflegegrad 5 vergeben. Pflegebedürftige mit einem außergewöhnlich hohem personellen Unterstützungsbedarf werden auch dann dem Pflegegrad 5 zugeordnet, wenn sie in der Begutachtung weniger als 90 Punkte erreichen. Ein Beispiel zur Verdeutlichung der Punktermittlung: Im Modul „Selbstversorgung kann angesichts seiner Gewichtung mit 40 % eine Höchstpunktzahl von 40 von 100 Punkten erreicht werden. Das Modul ist untergliedert in Kriterien wie unter anderem „Waschen des vorderen Oberkörpers“ und „Essen“, in denen die begutachtende Person jeweils die Selbstständigkeit zu bewerten hat. Insgesamt können in dem Modul auf diese Weise höchstens 54 Kriterienpunkte erreicht werden. Bei einer erreichten Punktzahl zwischen 37 und 54 in den Kriterien wird die volle Modulpunktzahl von 40 Punkten vergeben. Bei 19–36 Kriterienpunkten wird das Modul mit 30 Punkten bewertet. Für 8–18 Kriterienpunkte werden 20 Modulpunkte vergeben und für 3–7 Kriterienpunkte 10 Modulpunkte (MD 2023, S. 70). Je nach Modul ist die Kriterienbewertung unterschiedlich ausgestaltet, orientiert sich aber meist stark am Grad der Selbstständigkeit der antragstellenden Person.
Die Zuordnung zu den Pflegegraden erfolgt anhand der Gesamtpunktzahlen über alle Module (MD 2023, S. 71):
  • Pflegegrad 0: unter 12,5 Punkten von 100
  • Pflegegrad 1: 12,5 bis unter 27 Punkte
  • Pflegegrad 2: 27 Punkte bis unter 47,5 Punkte
  • Pflegegrad 3: 47,5 Punkte bis unter 70 Punkte
  • Pflegegrad 4: 70 Punkte bis unter 90 Punkte
  • Pflegegrad 5: ab 90 Punkten

Leistungen

Die soziale Pflegeversicherung bietet ihren Versicherten Unterstützung im Falle einer Pflegebedürftigkeit in Form von Dienst-, Sach- und Geldleistungen, die insbesondere für die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung gedacht sind. Allerdings ist zu beachten, dass grundlegende Anforderungen, die sich aus dem § 33 Abs. 2 SGB XI ergeben, erfüllt sein müssen, um Anspruch auf Pflegeleistungen zu haben. Dazu zählt bspw. ein Nachweis über eine gesetzlich festgelegte erforderliche Vorversicherungszeit. Weiterhin hängen Art und der Umfang der Leistungen von der Schwere der Pflegebedürftigkeit ab und davon, ob die Pflege zu Hause, teilweise stationär oder vollständig stationär in Anspruch genommen wird.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Leistungskatalog der Pflegeversicherung umfassend ist. Er ergibt sich insbesondere aus den Bestimmungen des dritten Abschnittes „Leistungen“ des SGB XI in den §§ 36 ff. Vereinfachend können die Leistungen wie folgt zusammengefasst werden:
  • Pflegegeld: Für Menschen, die zu Hause von Angehörigen oder Freunden gepflegt werden. Die Höhe des Pflegegelds hängt vom Grad der Pflegebedürftigkeit ab.
  • Pflegesachleistungen: Für Menschen, die zu Hause von professionellen Pflegediensten betreut werden. Auch hier ist die Höhe abhängig vom Grad der Pflegebedürftigkeit.
  • Kombinationsleistung: Eine Kombination aus Pflegegeld und Pflegesachleistungen für Menschen, die sowohl von Angehörigen oder Freunden als auch von professionellen Pflegediensten betreut werden.
  • Tages- und Nachtpflege: Dies sind teilstationäre Pflegeleistungen, bei denen die Pflegebedürftigen tagsüber oder nachts in einer Pflegeeinrichtung betreut werden, aber weiterhin zu Hause wohnen.
  • Vollstationäre Pflege: Für Menschen, die dauerhaft in einer Pflegeeinrichtung leben.
  • Kurzzeitpflege: Eine vorübergehende vollstationäre Pflege, z. B. wenn die häusliche Pflege zeitweise nicht möglich ist.
  • Pflegehilfsmittel und technische Hilfen: Diese sollen die häusliche Pflege unterstützen und die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen fördern.
  • Verhinderungspflege: Diese Leistung ermöglicht es, dass die Pflege vorübergehend von einer anderen Person übernommen wird, wenn die reguläre Pflegeperson wegen Urlaub oder Krankheit verhindert ist.
  • Pflegeberatung: Die Pflegekassen bieten eine Beratung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen an, um über die Leistungen der Pflegeversicherung zu informieren und bei der Organisation der Pflege zu helfen.
Grundsätzlich zeigt bereits diese kurze Übersicht, dass die häusliche Pflege, insbesondere die durch Angehörige oder sonstige dem Pflegebedürftigen nahestehenden Personen erbrachte Pflege Vorrang vor der vollstationären Pflege hat. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem § 3 SGB XI „Vorrang der häuslichen Pflege“.
Eine zusammenfassende Übersicht über die Hauptleistungen der Pflegeversicherung ermöglicht nachfolgende Tabelle (Tab. 1).
Tab. 1
Hauptleistungen der Pflegeversicherung (Angaben in Euro)
 
Pflegegrad 1
Pflegegrad 2
Pflegegrad 3
Pflegegrad 4
Pflegegrad 5
häusliche Pflege: Geldleistung
125,00*
316,00
545,00
728,00
901,00
häusliche Pflege: Sachleistung
724,00*
1363,00*
1693,00*
2095,00*
teilstationäre Pflege
*
689,00*
1298,00*
1612,00*
1995,00*
vollstationäre Pflege
125,00**
770,00
1262,00
1775,00
2005,00
*Entlasstungsbetrag nach § 45b SGB XI, für Leistungen zur Entlastung pflegender Angehöriger
**Zuschuss nach § 43 Abs. 3 SGB XI
Quelle: Simon (2021), S. 279 mit aktualisierten Zahlenwerten des Bundesministeriums der Gesundheit
Eine weitere lesenswerte Übersicht die Leistungsansprüche der Versicherten im Jahr 2023 an die Pflegeversicherung bietet das Bundesministerium für Gesundheit in ihrer Publikation zum Thema „Pflegeleistungen zum Nachschlagen“ (vgl. Bundesgesundheitsministerium 2023c). Besonders hilfreich sind dabei die ergänzenden Informationen zur Dauer des Leistungsbezuges, z. B. bei der Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege, zu Kombinationsmöglichkeiten von Leistungen sowie zu weiteren Leistungshöhen, wie z. B. Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes oder zu digitalen Pflegeanwendungen (DiPa) und ergänzende Unterstützungsleistungen, um nur einige zu nennen.

Pflegerische Infrastruktur

Länder, Kommunen, ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen und Kostenträger wirken eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Auf Landesebene erhalten die Pflegekassen den Auftrag, durch Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit Pflegeheimen, Sozialstationen und ambulanten Pflegediensten die pflegerische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten (§ 75 SGB XI, https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__75.html).

Begutachtung der Pflegebedürftigkeit

Die Feststellung, ob und in welchem Umfang Pflegebedürftigkeit vorliegt, erfolgt im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung durch den Medizinischen Dienst (MD). Mit dieser Aufgabe werden Ärzte und Ärztinnen, in zunehmendem Maße aber auch Pflegefachkräfte beauftragt.
Die Unternehmen, die die private Pflegepflichtversicherung betreiben, haben 1995 mit der Medicproof GmbH eine eigene Sachverständigenorganisation als „medizinischen Dienst der Privaten“ ins Leben gerufen. Sie beschäftigt im gesamten Bundesgebiet etwa 1200 freiberufliche Gutachterinnen und Gutachter. Es handelt sich dabei sowohl um Ärztinnen und Ärzte als auch um Pflegefachkräfte.
Die Medicproof GmbH arbeitet mit dem Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS 2021) zusammen, um die vom Gesetzgeber geforderte Gleichwertigkeit der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit bundesweit zu gewährleisten.
Die Begutachtung von Pflegebedürftigkeit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes wird bestimmt durch die im elften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XI) vorgegebenen Definitionen und Begriffe. Diese wurden im Sinne einer bundesweit einheitlichen Begutachtungspraxis verbindlich in den „Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungsrichtlinie – BRi) vom 15.04.2016, geändert durch Beschluss vom 22.03.2021“ des GKV-Spitzenverbandes und des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen konkretisiert.
Die Feststellung der Pflegebedürftigkeit erfolgt auf Antrag des Versicherten bei der Pflegekasse. Die Entscheidung zum Antrag muss dem Antragssteller gemäß § 18 Abs. 3 SGB XI spätestens 25 Arbeitstage nach Antragsstellung mitgeteilt werden. Die Pflegekasse übergibt den Antrag unmittelbar an den Medizinischen Dienst, der die Unterlagen sichtet und prüft, ob Auskünfte von behandelnden Ärzten, vom Krankenhaus und/oder Pflegeeinrichtung benötigt werden. Seitens des Medizinischen Dienstes wird in der Regel ein Gutachter oder eine Gutachterin bestimmt, die im Rahmen eines rechtzeitig angekündigten Hausbesuches die Pflegebedürftigkeit prüft (vgl. Begutachtungsrichtlinie – BRi).
Bei allen einer vereinheitlichten Begutachtungspraxis dienenden Vorgaben ist der Gutachter dennoch aufgefordert, Antragsteller hinsichtlich des Ausmaßes ihres Pflegebedarfs individuell zu beurteilen.
Zur Dokumentation bedient der oder die Gutachter/-in sich dabei eines einheitlichen Gutachtenformulars. Dieses findet sich für die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung im Anhang der Begutachtungsrichtlinien. Für die private Pflegepflichtversicherung wurde es unter Berücksichtigung deren Belange entsprechend angepasst; die Begutachtungsrichtlinien gelten hier aber gleichermaßen.
Das Formulargutachten enthält Angaben über vorliegende pflegerelevante Fremdbefunde, pflegerelevante Vorgeschichte, Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten, pflegebegründende Diagnose(n), Abschätzung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten der antragstellenden Person in den Modulen 1 bis 6 dargestellt auf der Ebene der gewichteten Punkte, Zuordnung zu einem Pflegegrad sowie gegebenenfalls Feststellungen zum Pflegeaufwand der Pflegeperson. Dabei wird beurteilt, inwiefern die zu begutachtende Person Aktivitäten selbstständig durchführen kann.
Dies erfolgt in den Modulen 1, 4 und 6 anhand einer vierstufigen Skala:
  • 0 = selbstständig
  • 1 = überwiegend selbstständig
  • 2 = überwiegend unselbstständig
  • 3 = unselbstständig
Im Modul 2 erfolgt ebenfalls eine Bewertung anhand von einer vierstufigen Skala mit folgenden Ausprägungen:
  • 0 = Fähigkeit vorhanden, unbeeinträchtigt
  • 1 = Fähigkeit größtenteils vorhanden
  • 2 = Fähigkeit in geringem Maße vorhanden
  • 3 = Fähigkeit nicht vorhanden
Beim Modul 3 erfolgt die Bewertung mittels folgender vierstufiger Skala:
  • 0 = nie oder sehr selten
  • 1 = selten, das heißt ein- bis dreimal innerhalb von zwei Wochen
  • 3 = häufig, das heißt zweimal bis mehrmals wöchentlich, aber nicht täglich
  • 5 = täglich
Im Modul 5 ist zu bewerten, ob ärztlich angeordnete Maßnahmen durchgeführt werden können, oder ob Hilfe benötigt wird. Dabei gibt es drei mögliche Einträge:
  • entfällt,
  • selbstständig oder
  • Häufigkeit der Hilfe mit einer vollen Zahl pro Tag, pro Woche oder pro Monat
Die gewichteten Einzelergebnisse der Module werden zu einem Gesamtpunktwert zusammengefasst, wobei nur der höhere Wert von den beiden Modulen 2 und 3 gewichtet berücksichtigt wird (vgl. Begutachtungsrichtlinie – BRi).
Am Ende des Gutachtens wird für die Bereiche „außerhäusliche Aktivität“ und „Haushaltsführung“ eine Einschätzung der Beeinträchtigung abgegeben. Diese werden bei der Ermittlung des Pflegegrads nicht berücksichtigt. Auch können Empfehlungen zur Förderung oder zum Erhalt der Selbstständigkeit, der Fähigkeiten, Prävention und Rehabilitation gegeben werden, die über die bisherige Versorgung hinausgehen. Das bezieht sich z. B. auf Hilfs- und Pflegehilfsmittel, wohnumfeldverbessernde Maßnahmen und Empfehlungen zur Veränderung der Pflegesituation.
Literatur
Bundesgesundheitsministerium (2023a) Pflege: Rehabilitation und Prävention. bundesgesundheitsministerium.de. Zugegriffen am 13.06.2023
Bundesgesundheitsministerium (2023b) Pflegegrade. bundesgesundheitsministerium.de. Zugegriffen am 03.07.2023
MD (2023) Richtlinien des GKV-Spitzenverbandeszur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. md-bund.de. Zugegriffen am 03.07.2023
Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) (2021) Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungsrichtlinien – BRi) vom 15.04.2016, geändert durch Beschluss vom 22.03.2021. https://​md-bund.​de/​fileadmin/​dokumente/​Publikationen/​SPV/​Begutachtungsgru​ndlagen/​_​21-05_​BRi_​Pflege_​21_​11_​18_​barrierefrei.​pdf. Zugegriffen am 26.09.2023
Simon M (2021) Das Gesundheitssystem in Deutschland, Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise, 7. Aufl. Hogrefe, BernCrossRef
Sozialgesetzbuch (SGB) – Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 1014). https://​www.​gesetze-im-internet.​de/​sgb_​11/​BJNR101500994.​html#BJNR101500994BJN​G000500307. Zugegriffen am 18.07.2023
Stier (2022) Arbeitsverhältnisse vom Eintritt bis zum Ausscheiden: Steuer-, Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht mit Mustervorlagen, Checklisten und praktischen Beispielen. Erich Schmidt, Berlin