Epidemiologie und Prognose
Verbrennungen mit 1/50.000 bis 1/60.000 Einwohner pro Jahr. ¾ der Betroffenen sind Männer. Kinder unter 10 Jahren sind in 9,7 % der Fälle von Verbrennungen betroffen, Jugendliche im Alter von 10–19 Jahren weniger häufig (6,2 %). Der Altersgipfel der Verbrennungen liegt mit 59,5 % bei den 20–59 Jährigen. Die Altersgruppe über 60 Jahren macht jedoch ebenfalls einen hohen Anteil der Brandverletzten aus (24,6 %).“ Dies erlaubt eine Schätzung von n = 138.000 leichten und n = 1838 schweren Verbrennungen jährlich in Deutschland. 64 % der Unfälle treten im häuslichen Bereich auf, weshalb Gutachten ganz überwiegend für die private Unfallversicherung (PUV) zu erstatten sind. Hier greift jedoch zumeist der Ausschluss psychischer Reaktionen vom vertraglichen Versicherungsschutz nach den AUB der PUV. Entschädigungen für
psychische Störungen werden in der PUV nur geleistet, wenn sie auf eine traumatische organische Schädigung zurückzuführen sind, d. h. hier sind nur traumabedingte neurokognitive Störungen (z. B. CO-Intoxikation, Schockschädigung des Gehirns etc.) relevant. Für die gesetzliche Unfallversicherung (hier sind auch psychische Folgen grds. mitversichert und entschädigungs- bzw. gutachtenrelevant) – berichtet die DGUV für das Jahr 2019 von nur n = 22.000 Unfälle mit Verbrennungen Erfrierungen, Verätzungen, Strom (
https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3893). Das Ausmaß der verbrannten
Körperoberfläche (VKOF) lag im Durchschnitt bei 27 % (Brychta
2008).
Eine
psychische Belastung kann durch mehrere Faktoren bedingt sein: Durch das Ereignis selbst (z. B. Fahrzeugbrand), durch erhebliche körperliche Beeinträchtigungen wegen
Schmerzen und Funktionsverlusten während der Akutbehandlung, durch nachfolgende operative Maßnahmen (z. B. zur Therapie von Narbensträngen) und durch Spätfolgen wie bleibende Funktionsstörungen der Haut, geminderter Beweglichkeit und eine damit einhergehende verminderte Teilhabe auch am Erwerbsleben, schließlich durch kosmetische Beeinträchtigungen.
Prävalenz
Die 1-Jahresprävalenz
psychischer Störungen in der Bevölkerung wird von Jacobi et al. (
2016) mit 28 % angegeben, d. h. die Basisrate für irgendeine psychische Diagnose nach DSM-IVTR (APA
2000) ist mit 1/3 zu schätzen. Die
Prävalenz psychischer Störungen vor der Brandverletzung ist deutlich höher, sie wird übereinstimmend mit ca. 60 % geschätzt und als Risikofaktor bewertet (Haum et al.
1995; Ilechukwu
2002; McArthur und Moore
1975; Palmu et al.
2011). Vor allem werden genannt: Substanzkonsumstörung 47 %, Psychosen 10 %,
Persönlichkeitsstörungen 23 %. Bei der Bewertung psychischer Auffälligkeiten nach oder bei Brandverletzungen ist somit für den Gutachter besondere Vorsicht geboten. Ferner begründet nicht jede physiologische Reaktion auf eine externe Belastung sogleich eine psychiatrische Diagnose. Vielfach (z. B. bei der
depressiven Episode) enthalten die diagnostischen Kriterien ausdrücklich den Hinweis, dass die physiologisch-psychische Reaktion auf eine Erkrankung oder auf Verlust oder Verletzung nicht als psychische Störung bewertet werden soll, sondern nur, wenn eine abnorme Verarbeitung vorliegt.
Die Prävalenz psychischer Störungen nach Brandverletzung wird auf 25–52 % geschätzt, (Altier et al.
2002; Thomas et al.
2009). Die häufigsten
psychischen Störungen bei Brandverletzten sind die depressive Episode sowie die
posttraumatische Belastungsstörung (Ripper et al.
2010, Review: Davydow et al.
2009). Zu berücksichtigen ist, dass sich die Studien noch auf das alte
DSM-IV (2000–2013) beziehen. Insbesondere bei der PTBS ist nach den (strengeren) DSM- 5 Kriterien mit einer deutlich niedrigeren
Prävalenz zu rechnen.
Prognose
Eine retrospektive Untersuchung an Erwachsenen, die als Kinder Verbrennungen erlitten hatten, fand vergleichbare Beschäftigungs- und Partnerschaftssituationen wie bei Nichtverletzten. Körperliche Beschwerden waren bei den brandverletzten Männern häufig, die Frauen beklagten Vermeidungsverhalten, Aggressivität und körperliche Beschwerden (Meyer et al.
2004). Schwer brandverletzte Kinder
allerdings (mittleres Alter bei Brandverletzung 4,5 Jahre, im Durchschnitt 42 % der KOF verbrannt) zeigten nach einer prospektiven Studie zu 52 % 9 Jahre nach dem Unfall psychische Auffälligkeiten, insbesondere Ängste, Substanzmissbrauch und aggressives Verhalten (Thomas et al.
2009).
Prospektive Untersuchungen fanden einen Monat nach dem Ereignis bei 54 % der Brandverletzten depressive Symptome, nach 2 Jahren noch bei 43 % (Wiechman et al.
2001). Die Übersichtsarbeit von Van Loey und Van Son (
2003) berichtet eine deutlich niedrigere
Prävalenz depressiver Symptome (13–23 %). Die Prävalenz der PTBS bei Brandverletzten wird auf 5–25 % geschätzt (Lawrence und Fauerbach
2003; Dyster-Aas et al.
2008). Ähnlich die Meta-Analyse von Giannoni-Pastor et al.
2016 mit einer Prävalenz der PTBS von 3–35 % (1 Monat), 2–40 % (Monat 3–6), 9–45 % ein Jahr danach und 7–25 % >2 Jahre später. Die erheblich divergierenden Prävalenzraten sind teilweise durch Heterogenität der
Stichproben bedingt, zu einem größeren Anteil durch Heterogenität der Diagnostik, d. h. durch Nutzung verschiedener Datenquellen, so wurde z. T. lediglich eine Befragung per Interview oder Fragebogen vorgenommen, aber keine psychiatrische Befunderhebung, was die
Validität der Daten stark mindert. Meist wurde für die PTBS die Impact of Event-Skala
eingesetzt (IES, IES-R), wobei dieses Verfahren bekanntermaßen zu zahlreichen falsch- Positiven führt, bereits in nicht-forensischem Zusammenhang und noch stärker im forensischen Kontext (Merten et al.
2010). Ferner werden die Symptome einer PTBS nach DSM-IVTR und
DSM-5 (APA
2013) damit nicht einmal annähernd erfasst. Die IES-R enthält sogar einen mathematisch grob fehlerhaften diagnostischen Quotienten. Die epidemiologische Datenlage muss somit für die PTBS als unzuverlässig bezeichnet werden.
Ungünstige Prädiktoren sind prämorbid schlechte soziale Integration, Neurotizismus, Introversion, Coping-Stil mit hoher Emotionalität und Vermeidung. Bedeutendste Prädiktoren waren psychische Vorerkrankungen, weniger das Ausmaß oder Lokalisation der Verbrennung (Quested et al.
1988). Pavoni et al.
2010 berichten über eine prospektive Studie von schwer brandverletzten Erwachsenen (>54 % KOF). Die häufigsten Probleme waren Einschränkungen der Mobilität, der Selbstständigkeit, Teilnahme an normalen Aktivitäten, Angst und Depressivität.
Schmerzen bei Entlassung aus stationärer Behandlung wurden in einer prospektiven Studie (Edwards et al.
2007) als Prädiktor für suizidale Handlungen ermittelt. Palmu (Palmu et al.
2011;
https://doi.org/10.1016/j.burns.2010.06.007) beschreiben, dass prospektiv die
Prävalenz psychischer Störungen von 45 % während der Akutbehandlung auf 33 % nach 6 Monaten abnimmt. Die Autoren fanden eine Korrelation der psychischen Symptome mit dem Ausmaß der Verbrennung. Öster et al. (
2013) berichten über follow-up-Untersuchungen von Brandverletzten über 7 Jahre und fanden, dass auch 2 Jahre nach dem Unfall noch wesentliche Verbesserungen in den Bereichen Hitzetoleranz, Körperbild, Erwerbstätigkeit und Psyche zu erwarten sind.
Bei Brandverletzten können ferner neurokognitive Störungen nach Inhalation toxischer Dämpfe oder Kohlenmonoxidvergiftungen auftreten. Prävalenzraten liegen hierfür nicht vor.
Kernsymptome und Diagnostik
Psychische Störungen sind nach dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu diagnostizieren, maßgeblich ist seit 2013 das
DSM-5 (Deutsche Fassung: Falkai und Wittchen
2015). Das ICD-10 ist zwar das nach § 295 SGB V vorgeschriebene Codierungssystem für die Abrechnung mit Trägern der ges. Krankenversicherung, jedoch für gutachtliche Zwecke weder relevant noch tauglich, weil die Kurzbeschreibung der
psychischen Störungen (sind im ICD übrigens nur für die Psychiatrie angegeben) seit 1992 unverändert blieben. Die aktuellen Kriterien samt ICD-10 Schlüssel sind im DSM-5 enthalten.
Akute Belastungsstörung
Wie bei der
posttraumatischen Belastungsstörung muss das Ereignis bestimmten Anforderungen genügen, es muss
objektiv eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder eine ernsthafte Verletzung eingetreten sein. Die früher in den diagnostischen Kriterien enthaltene psychische Erstreaktion (A2-Kriterium im
DSM-IV) wird nicht mehr gefordert, da prospektive Analysen zeigten, dass es sich nicht um einen validen Prädiktor der Diagnose handelt. Es folgen 17 Symptome, die meisten sind der klinischen Befunderhebung direkt zugänglich, andere beziehen sich auf innerpsychische Gegebenheiten, die nicht empirisch erfasst werden können. Die diagnostischen Kriterien sind identisch mit denen der PTBS, abgesehen vom Zeitraum: Von der
akuten Belastungsstörung spricht man, wenn die Symptome mindestens 3 Tage und maximal 1 Monat anhalten. Die akute Belastungsstörung kann also nicht schon am ersten Tag des Ereignisses gestellt werden und auch nicht z. B. 2 Monate später.
Anpassungsstörung
Im Gegensatz zur akuten und
posttraumatischen Belastungsstörung stellt die Anpassungsstörung keine Anforderungen an das Ereignis. Wesentlich ist, dass die Symptome in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Ereignis (innerhalb von 3 Monaten) auftreten und bezogen auf den Herkunfts-Kulturkreis außergewöhnlich sind,
Anpassungsstörungen halten in der Regel nicht länger als 6 Monate nach Beendigung des Ereignisses an. Bedingt die Brandverletzung z. B. eine anhaltende Krankenhausbehandlung mit Transplantationen und Narbenkorrekturen, kann eine länger dauernde Anpassungsstörung in Betracht gezogen werden. Die Störung kann mit Entzugserscheinungen bei Substanzabhängigen verwechselt werden sowie mit einem akuten hirnorganischen Psychosyndrom („burn delirium“), welches typischerweise 1–2 Tage nach der Verbrennung einsetzt.
Depressive Episode
Die Störung ist durch insgesamt 13 Kriterien definiert, von denen zeitgleich wenigstens 9 in wesentlicher Ausprägung über mindestens 14 Tagen vorliegen müssen. Wird diese Diagnose also bereits an den ersten Tagen nach einer Brandverletzung gestellt, müsste es sich um eine vorbestehende Depression handeln. Zu beachten ist der Abschnitt unterhalb des Kriteriums C, der ausdrücklich darauf hinweist, dass eine physiologische Störung der Motivation, des Antriebs etc. auf eine körperliche Verletzung oder Erkrankung hin nicht als Depression fehlgedeutet werden soll. Der Begriff der „reaktiven Depression“ ist obsolet, es sollte die „Anpassungsstörung vom depressiven Typ (Adjustment Disorder)“ verwendet werden.
Posttraumatische Belastungsstörung
Die Diagnose fordert objektiv eine Konfrontation mit dem Tod oder eine schwere Verletzung. Für die Begutachtung ist insofern unabdingbar, dass eine objektive Dokumentation des Geschehens und des Erstschadens vorliegt. Rückblickende Berichte von Versicherten sind nach statistischen Analysen regelmäßig dramatisierend. Die Diagnostik der PTBS nach den aktuellen Kriterien des
DSM-5 ist bei Stevens und Fabra (
2013,
2014) eingehend beschrieben. Die wesentliche diagnostische Maßnahme ist, durch die Konfrontation mit dem Geschehen, am besten mit Bildmaterial und Ermittlungsunterlagen, zumindest aber durch die ausführliche Erörterung, zu beobachten, ob ein Vermeidungsverhalten, Intrusionen, dissoziative Zustände, Flashbacks (halluzinationsartiges Wiederdurchleben des Ereignisses), abnorme körperliche Reaktionen und vor allem
Gedächtnisstörungen bezüglich wesentlicher Merkmale des Ereignisses auftreten. Sofern nach der Befunderhebung Zweifel am Vorliegen der Diagnose bestehen, empfiehlt sich eine systematische Beschwerdeerhebung mit Beschwerdenvalidierung
, z. B. dem MMPI-2
(Engel
2000) oder dem SRSI
(Merten et al.
2016). Die Gütekriterien dieser Instrumente sind mit einer Spezifität >0,9 dem klinischen Urteil, vor allem dem oftmals bemühten „Gesamteindruck der Glaubhaftigkeit“ bei weitem überlegen. Gerade die PTBS wird in entschädigungsrelevanten Verfahren oft vorgetäuscht (Merten und Dettenborn
2009; Young
2015). Diagnostische Interviews, auch das CAPS (Weathers et al.
2018) oder Selbstbeschreibungsskalen (wie die IES-R) versagen regelhaft, da bei Antragstellern häufig Antworttendenzen bestehen, die von den ziemlich augenscheinvaliden Instrumenten nicht erfasst werden (Rogers
2018; Stevens und Merten
2007; Merten et al.
2010; Young
2015). Von der CAPS existiert darüber hinaus noch keine autorisierte und validierte deutsche Version.
Neurokognitive Störung
Es bestehen multiple erworbene kognitive und mnestische Defizite mit Aphasie, Apraxie, Agnosie oder
Störungen der Exekutivfunktionen (vom Frontalhirn vermittelte, grundlegende mentale Prozesse höherer Ordnung wie Vigilanz, Aufmerksamkeit, Planung und Koordination von Handlungen). Die Erkrankung ist nach Brandverletzungen nicht progredient (Differenzialdiagnose: senile und substanzinduzierte
Demenz). Die Diagnose erfordert den Nachweis eine Hirnschädigung durch das Ereignis, entweder durch radiologische Befunde, vorzugsweise Kernspintomografie, oder durch einen dokumentierten Erstschaden (akutes
Delir im Rahmen der Brandverletzung). Ferner müssen die kognitiven Beeinträchtigungen durch eine fachpsychologische Begutachtung nachgewiesen werden, hier ist die Leitlinie der Gesellschaft für
Neuropsychologie (Neumann-Zielke et al.
2015) maßgeblich.
Pathogenese/Kausalität
Psychische Störungen können theoretisch bei Brandverletzungen auf mehreren Wegen entstehen bzw. zur Beobachtung gelangen. Ein
Ursachenzusammenhang ist im naturwissenschaftlichen Sinn durch die statistische Assoziation zweier Ereignisse (Trauma – Schädigungsfolge) gegeben (Pearl
2009), wobei in den verschiedenen Rechtsbereichen unterschiedliche Anforderungen an die Qualität der Assoziation gestellt werden. Die Aufgabe des Sachverständigen ist die Darlegung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstandes nach dem naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalitäts-Modell. Kurz gefasst muss der Ursachenzusammenhang durch die Benennung empirischer Evidenzen belegt werden, die zeigen, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit der vermuteten Folge zunimmt, wenn die vermutete Ursache vorausgegangen ist. Grundsätzlich kann ein Ursachenzusammenhang nicht aus einem Einzelfall hergeleitet werden. In Gutachten werden oftmals sogenannte Erklärungsphantasien anstelle empirischer Befunde zur Inzidenz angeboten, also Erläuterungen, was sich in der Psyche des Geschädigten zugetragen haben könnte. Solches hat mit der Darlegung des Ursachenzusammenhanges nichts zu tun. Nach der Darlegung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes ist der Einzelfall zu prüfen, nämlich insbesondere bezüglich dem Ereignis vorausgehender psychische Erkrankungen, hier sollten das Leistungsverzeichnis der Krankenversicherung und die Behandlungskartei des Hausarztes vorliegen. Wie oben erörtert, liegt die Basisrate für eine psychiatrische Diagnose nach
DSM-IV in Deutschland bei knapp 30 %, bei Brandverletzten ist die prämorbide
Prävalenz psychischer Störungen deutlich höher.
Zu Irrtümern führen häufig auch laienpsychologische Vorstellungen, z. B. dass nach dem Erleben eines Brandunfalles eine PTBS dadurch „verursacht“ wird, dass Angst vor einem ähnlichen Unfall empfunden wird. Nun bezieht sich die PTBS ausdrücklich und ausschließlich auf das unerwünschte und intensive Wiedererleben eines
vergangenen Ereignisses, keineswegs aber auf die Befürchtung kommender Unglücke. In ähnlicher Weise wird oft behauptet, eine Angststörung sei durch einen (Brand-) Unfall verursacht worden. Nun ist eine realistische Befürchtung, z. B. Angst vor Verpuffungen am Hochofen, kein Symptom einer psychischen Erkrankung, sondern physiologisches Lernen durch Erfahrung. Nur wenn die Ängste bizarr und irrational sind, kann eine Angststörung in Betracht gezogen werden. Der wissenschaftliche Kenntnisstand zu
Angststörungen besagt, dass diese ausschließlich durch genetische Anlagen, nicht aber durch Lebensereignisse hervorgerufen werden (Review: Licha und Stevens
2012a,
b,
c; Remes et al.
2016). Weder bei Menschen noch bei Tieren konnten durch traumatische Erfahrungen je Angststörungen induziert werden, wohl aber konditionierte Angst vor gefahrverkündenden Reizen, z. B. Gasgeruch. Deswegen werden Angststörungen auch hier nicht als Traumafolgestörung besprochen.
Nach akuten hirnorganischen Psychosyndromen bei Kohlenmonoxidvergiftung, Sauerstoffmangel oder Inhalation anderer toxischer Substanzen können anhaltende dementielle Zustände auftreten (Sykes und Walker
2015). Die Ursachenfeststellung erfordert neben dem Vorliegen eines initialen Psychosyndroms eingehende radiologische und elektrophysiologische Differenzialdiagnostik und fehlende Progredienz.
Spätfolgen der Verbrennung, wie Verlust von Gliedmaßen, Narben mit kosmetischer Beeinträchtigung oder mechanischer Beweglichkeitseinschränkung (Narbenzug), Ulzerationen, Verlust der Talg- und Schweißsekretion und Sensibilitätsstörungen, können zu erheblichen Einschränkungen beruflicher wie Freizeitaktivitäten und damit des Befindens führen. Dieser Verlust an beruflichen und privaten Freiräumen ist in der chirurgischen Bewertung der Unfallfolgen zu berücksichtigen und keine eigenständige psychische Störung.
Eine
gesonderte Bewertung psychischer Schädigungsfolgen erfolgt erst, wenn eigenständige
psychische Störungen von Krankheitswert nach sozialmedizinischer Definition, also
unmittelbar funktionsmindernd bestehen. Hier entstehen immer wieder Fehlbeurteilungen, weil die subjektive Beeinträchtigung durch organisch bedingte Funktionsminderung als psychische Störung bewertet wird. Die Auffassung, dass anhaltende körperliche Beeinträchtigung oder kosmetische Mängel „plausibel“ zu einer Minderung der Lebenszufriedenheit
und zu anhaltenden
psychischen Störungen führen, ist empirisch nicht belegt. Myers (
1992) hat auf das allgemein Unangemessene solcher Ad-hoc-Identifikationen mit Verletzten hingewiesen und gezeigt, dass die langfristige Lebenszufriedenheit nicht bzw. nur sehr gering mit dem körperlichen Zustand oder der objektiven Lebenssituation korreliert. Personen mit erheblichen Brandverletzungen zeigen eine ähnliche subjektive Lebenszufriedenheit wie Nichtverletzte (Altier et al.
2002; Sheridan et al.
2000). Entgegen der spontanen Erwartung korreliert z. B. die subjektiv bewertete kosmetische Beeinträchtigung, auch im Gesicht, nicht mit depressiven Symptomen (Hoogewerf et al.
2014).
Eine spezielle Form subjektiver Beeinträchtigung z. B. durch Narben ist die Körperbildstörung (Body Dysmorphic Disorder
). Dabei wird eine kosmetische Entstellung
geltend gemacht, die für andere nicht nachvollziehbar ist. Die Diagnose darf also nicht vergeben werden, wenn nach allgemein ästhetischen Gesichtspunkten eine wesentliche kosmetische Beeinträchtigung vorliegt, sondern nur dann, wenn dies
gerade nicht besteht. Die allgemeine
Prävalenz liegt bei 4 % (Bohne et al.
2002). Lokalisation und Ausmaß der Verbrennung erklären nach systematischen Untersuchungen lediglich 20 % der
Varianz der Körperwahrnehmung, prämorbide soziale Integration und Depressivität dagegen den größten Anteil. Eine erhöhte Inzidenz der Körperbildstörung nach Verbrennungen ist in der Literatur nicht bekannt.
Gutachtliche Bewertung
Das psychiatrische Gutachten enthält – wie stets – eine vollständige Anamnese, eine epikritische Aktensicht, grundsätzlich (!) einen körperlichen und einen psychischen Befund. In der Regel ist zum Nachweis von kognitiven Beeinträchtigungen psychologische Testdiagnostik erforderlich. Sowohl der Arzt wie auch der Psychologe setzen dabei validierende Verfahren ein. Nach Erhebung der Befunde und Berücksichtigung der Akteninhalte wird eine Diagnose gestellt und – wichtig – nach den diagnostischen Kriterien
begründet. Erst danach ist der Ursachenzusammenhang unter Bezugnahme auf den aktuellen medizinischen Kenntnisstand darzulegen (nicht nur zu behaupten). Das psychiatrische Gutachten soll allgemeinen Standards folgen, auf Befunden im Sinn von Tatsachen beruhen und nachvollziehbar sein (vgl. allgemeine Empfehlungen für psychiatrische Gutachten; Stevens et al.
2009 und die AWMF-Leitlinie 051/029).
Die Bemessung der
Invalidität, der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) oder des Grad der Schädigungsfolge (GdS) bzw. Grad der Behinderung (GdB) geschieht
nicht anhand der Diagnose. Darin besteht Einigkeit in der Rechtsprechung wie auch in der Psychiatrie (s.
DSM-5 den Abschnitt zum forensischen Gebrauch, Stevens und Grüner
2017). Da die meisten Diagnosen auf polymorphen und fakultativen Symptomen beruhen, ist die interindividuelle
Varianz der Beeinträchtigung bei gleicher Diagnose viel zu hoch. Für die Bewertung der Beeinträchtigung ist vielmehr darzulegen, welche objektivierbaren Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens für berufliche oder private Aktivitäten bzw. welche Einschränkungen in der allgemeinen Teilhabe bei dem Betroffenen nachgewiesen sind.