Zur reinen Refraktionskorrektur werden konventionelle Einstärkenlinsen in Form von Brillengläsern oder Kontaktlinsen verwendet. Darüber hinaus gibt es operative Optionen wie die refraktive Laserchirurgie, die Implantation von phaken Intraokularlinsen und den refraktiven Linsenaustausch. Auf diese Themen wird in separaten Kapiteln dieses Buchs genauer eingegangen. Wie bereits erläutert, kann jedoch eine reine Refraktionskorrektur das Risiko für sekundäre Komplikationen einer Myopie nicht reduzieren (siehe Abschn.
5). Daher nimmt die Prävention von Myopie im Kindesalter eine zentral Rolle ein. Hierbei kann eine Primärprävention (Verhinderung des Auftretens einer Myopie) von einer Tertiärprävention (Verhinderung der Myopieprogression bei bereits bestehender Myopie) unterschieden werden. Die aktuelle Evidenzlage bezieht sich vor allem auf die Tertiärprävention, sodass wir uns im Folgenden ebenfalls, wenn nicht anders erwähnt, auf die Progressionsminderung beziehen. Maßnahmen zur Myopieprävention können in drei Kategorien eingeteilt werden: (1) Umwelt-/Lifestyle-Faktoren, (2) Pharmakotherapie mit Atropin, (3) optische Methoden (multifokale Kontaktlinsen, Orthokeratologie, Multisegmentgläser).
Der Wirkmechanismus ist aktuell nicht abschließend geklärt. Atropin wirkt als unspezifischer, kompetitiver Antagonist an unterschiedlichen okulären Strukturen einschließlich Cornea, Iris, Ziliarmuskel, Retina, RPE und Chorioidea (Upadhyay und Beuerman
2020). Außerdem interagiert Atropin mit α2-adrenergen Rezeptoren (Carr et al.
2018), GABA-Rezeptoren (Barathi et al.
2014) und Rezeptortyrosinkinasen (Barathi et al.
2009). Unterschiedliche biologische Prozesse werden mit dem progressionsmindernden Effekt in Zusammenhang gebracht. Hierzu gehören eine Zunahme des Dopaminspiegels auf Ebene der Retina (Schwahn et al.
2000), eine Dickenzunahme der Aderhaut (Chiang und Phillips
2018) sowie auf Ebene der Sklera eine Hemmung der Proliferation von Fibroblasten, der Bildung von
Glykosaminoglykanen und des skleralen Remodelings (Gallego et al.
2012). Die Nebenwirkungen, die bei der lokalen Anwendung von Atropin beobachtet werden können, sind parasympatholytischer Natur. Einerseits wird ein verminderter Nahvisus durch Hypoakkommodation beobachtet, andererseits eine Fotophobie durch Mydriasis. Systemische Nebenwirkungen werden praktisch nicht beobachtet. Die Ausprägung und Häufigkeit der Nebenwirkungen ist dosisabhängig. Nach einer asiatischen
Metaanalyse liegt die höchste Konzentration, bei der ein noch akzeptables Maß an Nebenwirkungen beobachtet wird, bei 0,05 % (ca. 1 mm Pupillenerweiterung und 2 dpt Hypoakkommodation) (Ha et al.
2022). Kinder europäischer Herkunft scheinen jedoch bei gleicher Konzentration etwas stärkere Nebenwirkungen aufzuweisen (Cooper et al.
2013; Joachimsen et al.
2021). Dies lässt vermuten, dass die Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen Ethnien-spezifisch ist. Auch der progressionsmindernde Effekt weist eine positive Dosisabhängigkeit auf. Nach der o. g. Metaanalyse führt 0,01 % Atropin über eine Jahr zu einer Progressionsminderung von 0,39 dpt, bzw. 0,13 mm im Vergleich zu Placebo, während 0,05 % die Progression um 0,62 dpt, bzw. 0,25 mm reduziert und 1 % eine Progressionsminderung von 0,81 dpt, bzw. 0,35 mm bewirkt. Ethnien-abhängige Unterschiede werden auch bei der Effektivität beobachtet. In einer australischen Population mit gemischter Ethnizität war 0,01 % Atropin bei Kindern asiatischer Herkunft weniger effektiv als bei Kinder europäischer Herkunft (Lee et al.
2022). Zusammengefasst scheint 0,05 % in asiatischen Populationen ein guter Kompromiss zwischen Effektivität und Nebenwirkungen zu sein. In nicht-asiatischen Populationen liegt die optimale Dosis vermutlich niedriger. Die Dosisfindung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Entsprechend werden aktuell (Stand 05/2023,
clinicaltrials.gov) > 10 Studien mit dem Thema Myopie-Tertiärprävention bei Kindern europäischer Herkunft durchgeführt.
Orthokeratologische Linsen sind bei guter Hygiene ähnlich sicher wie Tageslinsen, erfordern aber eine hohe
Compliance, einerseits aufgrund der seltenen aber potenziell erheblichen Schädigung des kindlichen Auges bei mikrobieller Keratitis und andererseits, da ansonsten eine schwankende
Refraktion resultiert (Cho und Tan
2019; Vincent et al.
2021). Die Quantifizierung der Myopieprogression kann nur über die Messung der Bulbuslänge erfolgen.