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Orthopädie und Unfallchirurgie
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Publiziert am: 15.06.2023

Gangschule

Verfasst von: Max Nikolaus und Bernhard Greitemann
Für die meisten Patienten hat das Gehen und die damit verbundene Mobilität einen besonders hohen Stellenwert. Für viele Patienten stellt es eines der wichtigsten Behandlungsziele dar. Durch die professionelle Gangschule können Mobilität und Sicherheit gefördert und somit die Eigenständigkeit der Patienten gesichert werden.

Einleitung

Für die meisten Patienten hat das Gehen und die damit verbundene Mobilität einen besonders hohen Stellenwert. Für viele Patienten stellt es eines der wichtigsten Behandlungsziele dar (Buck et al. 2005). Durch die professionelle Gangschule können Mobilität und Sicherheit gefördert und somit die Eigenständigkeit der Patienten gesichert werden.

Definition

Die Schulung des Gangbildes ist immanenter Teil der krankengymnastischen Basistechniken, die auf die Erhaltung und Wiedererlangung eines physiologischen Gangbildes bei Gangstörungen abzielt (Hailer 2017).

Prinzip

Die Gangschule gestaltet sich entsprechend der zulässigen Belastbarkeit, verschiedene Arten des unterstützenden Gehens können Anwendung finden. Theoretische Grundlage jeglichen Gehtrainings ist das Modell des Gangablaufes, das von Jackeline Perry (2003) beschrieben und auch in der ISO-Norm definiert wurde. Im Rahmen der Gangschule wird zunächst eine Ganganalyse mit dem Patienten durchgeführt. Bei dieser klinischen Analyse werden Beobachtungen im Gehen und Stehen durchgeführt und die einzelnen Phasen des Gehens betrachtet, die den Gangzyklus bilden (Abb. 1). Der Gang lässt sich gliedern in eine Stand- und eine Schwungphase (Ebelt-Paprotny et al. 2008). Die Standphase macht dabei 60 %, die Schwungphase 40 % der Ablaufzeit aus. Verglichen wird vor allem die Symmetrie der Gangabwicklung und erkennbarer Störungen.
Neben der Analyse des Gangzyklus werden weitere Kriterien im Seitenvergleich in Betracht gezogen:
1.
Schrittlänge, -tempo
 
2.
Belastung
  • Verteilung Stand-Schwungphase (60:40)
  • Auftritt Standphase (Fersenkontakt Vorfuß)
  • Abrollverhalten Fuß
 
3.
Spurbreite
 
4.
Fußstellung
 
5.
Bewegung/Verlagerung des Körperschwerpunktes
 
6.
Stabilisierungsfähigkeit der Gelenke der unteren Extremität
 
7.
Stabilität und Bewegungsverhalten des Rumpfes
 
8.
Reaktiver Armpendel (Ebelt-Paprotny et al. 2008).
 

Indikation und Kontraindikation

Die klinisch-beobachtende Ganganalyse ist Grundbestandteil jedweder orthopädischen oder physiotherapeutischen Behandlung. Eine Gangschule kann Anwendung finden bei sämtlichen Abweichungen des Gangbildes im orthopädisch-traumatologischen Bereich. Bei fehlender Mobilisierbarkeit des Patienten oder bei bestehenden Begleitdiagnosen, die eine allgemeine Kontraindikation für eine Mobilisierung darstellen, ist die Gangschule kontraindiziert. Kontraindikationen können beispielsweise akute Lokalinfekte, eine mangelnde Belastbarkeit der unteren Extremitäten oder akute, tiefe Bein- oder Beckenvenenthrombosen (Hailer 2017) sein.

Vorgehen in der Therapie

Belastungsstufen des Gehens

Im Zuge der Gangschule lassen sich verschiedene Gangarten differenzieren, die auf den Belastungsstufen des Gehens basieren. Die Höhe der Belastbarkeit ist abhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung und erfolgt in Absprache mit dem behandelnden Arzt. Die Belastung wird mit dem Physiotherapeuten auf einer Personenwaage verdeutlicht und im Weiteren eingeübt (Ebelt-Paprotny et al. 2008). Je nach Gangarten können diverse Hilfsmittel genutzt werden, wobei die Wahl der Hilfsmittel abhängig ist von individueller Koordination, Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer und dem Schmerz des Patienten (DGOU 2017).
Nach den Belastungsstufen des Gehens werden folgende Gangarten unterschieden:
Entlastender Gang
Die vollständige Entlastung des betroffenen Beines, welches im Gangrhythmus ohne Bodenkontakt nach vorne bewegt wird, ist notwendig. Der entlastende Gang kann beispielsweise im Barren, Gehwagen sowie an Unterarmgehstützen beübt werden (Ebelt-Paprotny et al. 2008, DGOU 2017).
Minimal belastender Gang
Beim minimal belastenden Gang kommt es zu einer reduzierten Belastung des betroffenen Beines. Hierbei wird das Bein durch Stützen entlastend begleitet. Die Abrollbewegung des Fußes sowie der Bewegungsablauf in Knie- und Hüftgelenk werden mit dem Patienten trainiert. Sitzend und stehend ist das Abstellen des betroffenen Beines mit seinem Eigengewicht möglich. Mögliche Hilfsmittel für den minimalbelastenden Gang sind Barren, Gehwagen, Rollator oder Unterarmgehstützen.
Teilbelastender Gang
Für den teilbelastenden Gang wird die zulässige Belastung durch den betreuenden Arzt in Kilogramm angegeben. Unter Einsatz von Hilfsmitteln wird die Teilbelastung des betroffenen Beines gewährleistet.
Vollbelastender Gang
Im vollbelastenden Gang muss das betroffene Bein das gesamte Körpergewicht übernehmen können. Auch wenn die Vollbelastung gegeben ist, können Schmerzen sowie Schwäche des Patienten die Umsetzung beeinflussen. Unter Vollbelastung ist das Gehen mittels Unterarmgehstützen, mit Gehstock oder ohne jegliche Hilfsmittel möglich (DGOU 2017).

Arten des unterstützten Gehens

Dreipunktegang
Die Belastung des Beines im Dreipunktgang erfolgt, indem Stützen oder andere Hilfsmittel das betroffene Bein entlastend begleiten und so zu einer Gewichtsentlastung beitragen. Hierbei wird die Belastung des Beines nach Vorgabe reduziert und ermöglicht somit die Entlastung, Minimal-/Teilbelastung sowie eine Vollbelastung während des Gehens (Abb. 2).
Zweipunktegang
Der Zweipunktegang unterstützt teilweise die Entlastung eines oder beider Beine. Hierbei werden Gehhilfe und kontralaterales Bein zeitgleich aufgesetzt, Gehhilfe und Bein der jeweiligen Gegenseite folgen. Die Vollbelastung des betroffenen Beines sollte gegeben sein (Abb. 3).
Durchschwunggang/Zuschwunggang
Bei diesen Arten des unterstützten Gehens wird das Körpergewicht über die Arme hochgestützt und beide Beine gleichzeitig vorgeschwungen. Beim Durchschwunggang werden die Beine vor die Stütze, beim Zuschwunggang hingegen zwischen die Stütze geschwungen. Beide genannten Arten des Gehens stellen Sonderformen dar.
Das Gehen mit lediglich einer Unterarmgehstütze sollte vermieden werden. Hierbei kann es über die Gehhilfe zu einer unphysiologischen Gewichts-/Schwerpunktverlagerung kommen. Stattdessen sollten bei bestehender Gangunsicherheit ein oder zwei Gehstöcke Anwendung finden (DGOU 2017).
Neben dem Einüben des Gehens werden im Rahmen der Gangschule weitere Alltagsfunktionen mit den Patienten trainiert. So sollen gezielt Gefahrensituationen aufgezeigt und Komplikationen im Alltag vermieden werden. Hierbei werden das Aufstehen und Hinsetzen sowie das Treppensteigen geübt (Dölken 2009).
Transfer – Aufstehen und Hinsetzen
Das Aufstehen und Hinsetzen sind nach einer längeren Zeit der Bettlägerigkeit, insbesondere bei älteren Patienten erschwert. Um Sicherheit und Routine zu erlangen, sollte daher der Transfer mit dem Patienten geübt werden. Je nach Krankheitsbild sind unterschiedliche Faktoren zu berücksichtigen. So sollte beispielsweise nach einer Wirbelsäulenoperation der Patient „en bloc“ mobilisiert werden, bei Patienten mit Hüftprothese bzw. Schenkelhalsfraktur ist es hingegen entscheidend, dass der Patient über die betroffene Seite aufsteht. Es kann sowohl das Aufstehen aus der Rückenlage als auch aus dem Sitz trainiert werden.
Treppensteigen
Das Treppensteigen kann mit einer beziehungsweise zwei Stützen geübt werden. Sofern vorhanden, kann einseitig auch das Geländer als Hilfsmittel genutzt werden. Beim Hinaufgehen der Treppe wird generell das nicht betroffene Bein zuerst auf die nächste Treppenstufe aufgestellt. Stütze und betroffenes Bein folgen zeitgleich. Beim Hinabsteigen der Treppe wird grundsätzlich das betroffene Bein, zeitgleich mit der Stütze, auf die nächstfolgende Stufe gestellt. Das gesunde Bein folgt (Münzing 2007) (Abb. 4).
Spezielles Gehtraining
Je nach Krankheitsbild kann eine spezielle Gangschule indiziert sein. Beispiel hierfür stellt die Gangschule nach Amputation mit Prothesenversorgung dar (Hailer 2017). So werden unter speziellen Voraussetzungen andere Herangehensweisen benötigt. Im Beispiel der Gangschule für Amputierte spielen zusätzliche Faktoren wie beispielsweise der erhöhte Kraftaufwand, der für das Gehen mit Prothese benötigt wird, eine zu berücksichtigende Rolle. Die Grundlagen für das Gehtraining mit Prothese müssen daher bereits im Vorfeld der prothetischen Versorgung geschaffen werden. Hierzu zählen unter anderem die Stumpfpflege und -gymnastik sowie der Einbeingang an Unterarmstützen (Schädlich 1976). Nach Prothesenversorgung erfolgt daraufhin eine Koordinations- und Gleichgewichtsschulung, ein Prothesenhandling, ein Transfertraining mit und ohne Prothese, sowie ein ADL-Training. Die eigentliche Schulung des Gangbildes beginnt mit dem Einüben des Aufstehens. Daraufhin werden die einzelnen Phasen des Gehens im Gehbarren bestmöglich trainiert, bis der Patient diese verinnerlicht hat. Zudem wird das Treppensteigen, das Gehen in der Schräge und im Terrain geübt (Mayerhofer 2002) (Abb. 5).
Literatur
Buck M, Adler S, Beckers D (2005) PNF in der Praxis. Springer, Berlin/Heidelberg, S 262
Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V., DGOU (Hrsg) (2017) Nachbehandlungsempfehlungen 2017. Arbeitskreis Traumarehabilitation. Sektion Physikalische Therapie und Rehabilitation der DGOU, 3. Aufl., S 10–11. https://​dgou.​de/​fileadmin/​user_​upload/​Dokumente/​Qualitaet_​und_​Sicherheit/​Nachbehandlungse​mpfehlungen_​2017.​pdf. Zugegriffen am 22.07.2019
Dölken M (2009) Physiotherapie in der Orthopädie, 2. Aufl. Georg Thieme, Stuttgart, S 144–151
Ebelt-Paprotny G, Kiesewetter C, Wenk W (2008) Gangschulung. In: Ebelt-Paprotny G, Preis R (Hrsg) Leitfaden Physiotherapie, 5. Aufl. Urban &Fischer, München, S 64–70
Hailer N (2017) Gangschule. In: Engelhardt (Hrsg) Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie. Springer. http://​www.​lexikon-orthopaedie.​com/​pdx.​pl?​dv=​0&​id=​00973. Zugegriffen am 14.07.2019
Mayerhofer K (2002) Gangschulung. In: Greitemann B, Bork H, Brückner L (Hrsg) Rehabilitaion Amputierter. Anforderungen. Methoden. Techniken, 1. Aufl. Gentner Verlag, Stuttgart, S 250–290
Münzing C (2007) Verletzungen der unteren Extremität und des Beckens. In: von Hüter-Becker A, Dölken M (Hrsg) Physiotherapie in der Traumatologie/Chirurgie, 3. Aufl. Georg Thieme, Stuttgart, S 165–172
Perry J (2003) Ganganalyse. Norm und Pathologie des Gehens, 1. Aufl. Urban & Fischer, Jena, München, S 2
Schädlich H (1976) Gangschulung Amputierter und Beinverletzter, 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart, S 3–11