Einleitung
Delinquentes, d. h. normabweichendes und (potenziell) strafrechtlich relevantes Verhalten, ist bei Kindern und Jugendlichen ein häufiges, aber in der Regel vorübergehend auftretendes Phänomen (Moffitt
1993). Dementsprechend sind Kinder und Jugendliche in den polizeilichen Kriminalstatistiken, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, insbesondere bei Gewaltdelikten überrepräsentiert (Deutsches Jugendinstitut
2023). Auch in Dunkelfeldstudien finden sich hohe Häufigkeiten von selbst berichtetem delinquenten Verhalten bei Kindern und Jugendlichen. So lag die 12-Monats-Prävalenz in einer Befragung von Schüler_innen der 9. Klasse in Niedersachsen 2019 für Eigentumsdelikte bei 12,6 % und für Gewaltdelikte bei 7,5 % (Krieg et al.
2020). Langfristig gesehen ist es dabei in den letzten 20 Jahren kontinuierlich zu einer Abnahme von Jugendkriminalität gekommen (Deutsches Jugendinstitut
2023). Dementgegen verweisen Daten aus der Schweiz auf eine Zunahme von Jugenddelinquenz seit dem Jahr 2015 (Baier
2021), und auch in Deutschland und Österreich ist ein entsprechender Trend, v. a. bezüglich Gewaltdelikten, seit dem Jahr 2021 zu verzeichnen (Deutsches Jugendinstitut
2023; Statistik Austria
2024). Eine mediale und gesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgt insbesondere dann, wenn es zu aufsehenerregenden Fällen von Tötungen durch Kinder und Jugendliche oder gruppenassoziierten Gewaltphänomenen durch Jugendliche kommt, wie etwa im Rahmen der sog. Silvesterkrawalle in Berlin zum Jahreswechsel 2022/2023 (Fegert und Kistler Fegert
2023).
Die vorübergehende Delinquenz im Jugendalter ist vor allen Dingen durch neurobiologische und hormonelle Veränderungen im Jugendalter begründet, in deren Zusammenhang es zu einer veränderten Stressresilienz, insbesondere aber zu einer Zunahme von impulsiven Verhaltensweisen kommt (Konrad et al.
2013). Die Zunahme von delinquenten Verhaltensweisen in dieser Altersphase beschränkt sich bei den meisten Jugendlichen auf vereinzelte Handlungen und einen begrenzten Zeitraum, ohne dass damit eine bedeutsame Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus einhergeht. Bei einigen Kindern und Jugendlichen finden sich jedoch sehr stabile Entwicklungsverläufe von delinquentem Verhalten (Moffitt
1993) mit einer Ersttäterschaft häufig deutlich vor dem Alter von 14 Jahren (Krieg et al.
2020), sodass eine frühe Identifikation dieser Jugendlichen und eine frühe Intervention notwendig erscheinen (Pisano et al.
2017).
Bei diesen Jugendlichen, die einen frühen Beginn oder wiederholtes delinquentes Verhalten zeigen, bestehen in der Regel weitere Auffälligkeiten, wobei insbesondere individuelle Aspekte wie Verhaltensschwierigkeiten, aggressives und impulsives Verhalten, Substanzkonsum und problematische Beziehungen zu Gleichaltrigen bedeutsame Risikofaktoren sind (Assink et al.
2015). Aber auch genetische Einflüsse (Azeredo et al.
2019) und ungünstige Kindheitserfahrungen („adverse childhood experiences“; inklusive familiär-sozialer Umfeldfaktoren) erhöhen nicht nur das Risiko für das Auftreten von psychischen Erkrankungen, sondern auch für delinquentes Verhalten (Hughes et al.
2017; Folk et al.
2021; Pires und Almeida
2023), wobei unklar ist, ob diese direkt die Delinquenz begründen oder bestimmte kriminogene Risikofaktoren wie narzisstische oder psychopathische Eigenschaften verstärken (Craig et al.
2021). Nach neuesten Forschungsergebnissen scheinen aber ungünstige Kindheitserfahrungen und die Entwicklung psychopathischer Eigenschaften („callous-unemotional traits“) in einem engen Zusammenhang zu stehen (Todorov et al.
2023).
Obwohl es sich bei delinquentem Verhalten nicht um eine psychische Erkrankung handelt, sind Kinder- und Jugendpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen nicht nur wegen der gemeinsamen Risikofaktoren von Kriminalität und Psychopathologie regelmäßig mit Delinquenz im Kindes- und Jugendalter konfrontiert. So stellen delinquente Handlungen wesentliche diagnostische Kriterien der Störung des Sozialverhaltens in der ICD-10/ICD-11 und im DSM‑5 dar. Aggressives Verhalten ist ein häufiger Vorstellungsanlass. Störungen des Sozialverhaltens gehören international mit einer Prävalenz von 7–15 % (Jungen) bzw. 4–9 % (Mädchen) zu den häufigsten psychischen Erkrankungen (Mohammadi et al.
2021) und gehen mit einer erheblichen psychosozialen Beeinträchtigung einher (GBD 2019 Mental Disorders Collaborators
2022). In der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland lag der Anteil von Störungen des Sozialverhaltens bei 8 % (Jaite et al.
2021). Im Jugendstrafvollzug finden sich Prävalenzen über 50 % (Allroggen
2018; Beaudry et al.
2021). Insgesamt sind psychische Störungen bei inhaftierten Jugendlichen überdurchschnittlich häufig (Allroggen
2018; Beaudry et al.
2021), auch wenn nur bei einem geringen Teil der delinquenten Jugendlichen die zugrunde liegenden psychischen Störungen alleinig delinquenzbegründend sind und nur im Ausnahmefall zu einer Schuldunfähigkeit oder -minderung im Sinne der §§ 20, 21 StGB führen. Dennoch werden Kinder- und Jugendpsychiater_innen gerade im Zusammenhang mit sog. Intensivtäter_innen oder bei Tötungsdelikten regelmäßig zur Gutachtenerstattung bezüglich der medizinischen Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB oder zur Frage der Strafreife gemäß § 3 JGG bei gerade 14-jährigen Jugendlichen oder Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen bzw. Entwicklungsverzögerungen beauftragt (Allroggen
2020). Es gibt allerdings wenig bis kein Wissen darüber, wie häufig Kinder- und Jugendpsychiater_innen in welchen Bereichen gutachterlich tätig werden, und welche Instrumente sie dabei nutzen.
In Bezug auf die Behandlung von delinquenten Jugendlichen und Jugendlichen mit externalisierenden Störungen liegen mittlerweile zahlreiche Untersuchungen vor, die auf die Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen und insbesondere familienbasierten Interventionen hinweisen (Riise et al.
2021; Sheidow et al.
2022; Aazami et al.
2023), wobei teilweise nur geringe Effekte gefunden werden konnten, beispielsweise von Sozialkompetenztrainings (van der Stouwe et al.
2021).
Im Bereich der Erwachsenenforensik gibt es unterschiedliche Publikationen zur psychiatrischen und zur psychotherapeutischen Versorgungssituation (z. B. Huchzermeier und Aldenhoff
2002; Huchzermeier et al.
2022; Köhler und Kallert
2009; Schmidt-Quernheim
2023). Während zuletzt Übersichtsarbeiten zur allgemeinen kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. -psychotherapeutischen Versorgungssituation in Deutschland (Jaite et al.
2022; Schepker und Kölch
2023) bzw. im deutschsprachigen Raum (Sevecke et al.
2022; von Wyl et al.
2017) sowie eine Arbeit zur forensischen Versorgungssituation in Österreich (Trabi et al.
2023) veröffentlicht wurden, fehlen empirische Untersuchungen zur speziellen Versorgungssituation von delinquenten Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bisherige Arbeiten beziehen sich entweder ausschließlich auf Erziehungsfähigkeitsgutachten (Pawils et al.
2014) oder spezifische Aspekte von Delinquenz (Fegert et al.
2003).
Ziel dieser Untersuchung war es daher zu erfassen, wie häufig im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie Behandler_innen mit delinquentem Verhalten ihrer Patient_innen konfrontiert sind, welche Versorgungskonzepte bestehen, und in welchem Umfang eine gutachterliche Tätigkeit erfolgt.
Methodik
Um ein erstes Bild der Versorgungs- und Begutachtungssituation von delinquenten Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu erhalten, wurde eine bundesweite Online-Befragung durchgeführt. Angesprochen werden sollten (Fach‑)Ärzt_innen, (Rechts‑)Psycholog_innen sowie (Kinder- und Jugendlichen‑)Psychotherapeut_innen (in Ausbildung), die im Laufe ihrer Berufslaufbahn mit Begutachtungen von Kindern und Jugendlichen oder dem Thema Delinquenz und deren Behandlung konfrontiert worden waren (unabhängig von ihrem Erfahrungshorizont). Delinquenz wurde dabei definiert als normabweichendes, (potenziell) strafrechtlich relevantes Verhalten, unabhängig von Deliktschwere oder spezifischen Deliktkategorien (z. B. Sexualdelikte, Eigentumsdelikte, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetzt). In einem ersten Schritt wurden im Rahmen regelmäßiger Sitzungen der Arbeitsgruppe „Forensische Fragestellungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP;
www.dgkjp.de/arbeitsgemeinschaften) die interessierenden Inhalte diskutiert und entsprechende Items formuliert. Ein erster Entwurf des Fragebogens wurde ab Juni 2021 zunächst im Raum Rostock und dann auch im Ruhrgebiet im Hinblick auf seine Anwendbarkeit an einer Stichprobe von 14 Personen erprobt. Die daraus resultierenden Erkenntnisse wurden in der Arbeitsgruppe diskutiert und entsprechende Anpassungen am Fragebogen vorgenommen. Die endgültige Version wurde im März 2022 von allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe konsentiert.
Der Fragebogen umfasste zunächst einige administrative bzw. demografische Angaben, z. B. Alter, Geschlecht, Berufsbezeichnung, Aus- bzw. Weiterbildungsgrad sowie Bundesland der Ansässigkeit und Zuständigkeit. Der nächste Abschnitt richtete sich an Personen, die in der Begutachtung von Kindern und Jugendlichen tätig sind. Erfragt wurden u. a. der Schwerpunkt der gutachterlichen Tätigkeiten (z. B. Familienrecht, Strafrecht etc.), im Begutachtungsprozess angewendete standardisierte Instrumente sowie die Häufigkeit, mit welcher Gutachten erstattet wurden. Zwei weitere Sektionen widmeten sich der ambulanten bzw. (teil-)stationären kinder- und jugendpsychiatrischen/-psychotherapeutischen Arbeit. Es sollte u. a. angegeben werden, ob – und wenn ja, wie viele – Patient_innen mit delinquenten Verhaltensweisen behandelt werden, und ob diesbezüglich spezifische Behandlungsmaßnahmen zum Tragen kommen.
Im Folgenden wurden ein Datenschutzkonzept gemeinsam mit den Datenschutzbeauftragten der Universität des Saarlandes und der Universität Ulm erstellt und der Fragebogen digitalisiert (
www.soscisurvey.de; SoSci Survey GmbH, München). Nach Prüfung durch die Ethikkommission der Universität Ulm fiel das Forschungsprojekt nicht unter § 15 der Berufsordnung für Ärzt_innen in Baden-Württemberg, sodass kein Votum erforderlich wurde. Zum Zwecke der Rekrutierung wurde über die E‑Mail-Verteiler bzw. Newsletter unterschiedlicher Fachverbände (DGKJP, Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V., Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V., Sektion Rechtspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) e. V.) auf die Befragung aufmerksam gemacht. Außerdem wurde im Rahmen des DGKJP-Kongresses 2022 über eine Posterpräsentation zur Teilnahme an der Befragung eingeladen. Die Online-Befragung wurde zum 17.05.2022 freigeschaltet und am 31.12.2022 geschlossen.
Schlussfolgerungen
Trotz dieser Limitationen ergeben sich aus der Befragung zwei zentrale Aspekte bzw. Erkenntnisse, die jedoch in weiteren Studien noch einer differenzierten Betrachtung bedürfen. Zum einen zeigt sich, dass Kinder- und Jugendpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen regelmäßig mit delinquenten Kindern und Jugendlichen zu tun haben, gleichzeitig aber nur wenige spezialisierte Behandlungsangebote vorliegen. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig zu den Gründen, warum Delinquenz nur relativ selten speziell in der Behandlung adressiert wird, bzw. welche Hemmnisse diesbezüglich bestehen, insbesondere aber auch, welche Maßnahmen sich in der klinischen Regelversorgung als praktikabel und wirksam erweisen, und inwieweit hier eine Verankerung in der Regelversorgung erforderlich ist oder möglicherweise – ähnlich zur Erwachsenenforensik – der Aufbau spezialisierter Ambulanzen außerhalb des Maßregelvollzugs sinnvoll sein kann. Zum anderen zeigt sich, dass bezüglich der gutachterlichen Tätigkeit eine große Heterogenität besteht in Bezug auf die Quantität der erstellten Gutachten als auch auf die eingesetzten Instrumente. Hier sind weitere Untersuchungen bezüglich der Auswirkungen auf die Qualität der Gutachten notwendig, aber auch, wie ein Wissenstransfer bzw. eine Professionalisierung gesichert werden kann, wenn nur gelegentlich Gutachten erstattet werden. Die Gutachtenstätigkeit ist dabei nicht auf Kinder- und Jugendpsychiater_innen beschränkt. Gemäß § 43, Abs. 2 JGG soll, wenn erforderlich „(…) eine Untersuchung des Beschuldigten, namentlich zur Feststellung seines Entwicklungsstandes oder anderer für das Verfahren wesentlicher Eigenschaften“ herbeigeführt werden und „nach Möglichkeit (…) ein zur Untersuchung von Jugendlichen befähigter Sachverständiger mit der Durchführung der Anordnung beauftragt werden“. Dies bedeutet, dass insbesondere für Fragen des Entwicklungsstandes im Rahmen der Feststellung der Strafreife auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen für die Begutachtung infrage kommen. In den Weiterbildungsordnungen für Kinder- und Jugendpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen bzw. Rechtspsycholog_innen, aber auch in den Ausbildungscurricula für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen spielen forensische Fragestellungen bei Kindern und Jugendlichen eine nur sehr marginale Rolle und sollten aufgrund ihrer Relevanz eine größere Bedeutung erhalten. In diesem Zusammenhang sollten auch Standards für die strafrechtliche Begutachtung von Jugendlichen und Heranwachsenden durch kinder- und jugendpsychiatrische bzw. psychologische/psychotherapeutische Fachgesellschaften und Berufsverbände entwickelt werden.
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