Gefährdungshaftung, Produkthaftung, Probandenversicherung
Arzneimittelhersteller haften zivilrechtlich grds. aus Verschulden oder wegen unerlaubter Handlung (Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht) nach dem BGB. Darüber hinaus aber auch verschuldensunabhängig für typische Risiken im Rahmen der sog.
Gefährdungshaftung, einer Haftung für das erlaubte Schaffen einer Gefahr, wenn dies gesetzlich normiert ist. Die Gefährdungshaftung ergibt sich für
Medizinprodukte und nicht zugelassene Arzneimittel (also in klinischen Prüfungen) aus dem Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG). Zugelassene Arzneimittel sind hiervon ausdrücklich ausgenommen (§ 15 ProdHaftG) und stattdessen spezialgesetzlich in § 84 Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt.
Das
Medizinproduktegesetz (MPG) enthält keine spezifische Vorschrift zur
Produkthaftung. Da sich hier also die Haftung allein aus dem ProdHaftG ergibt, gelten die Haftungsbedingungen wie bei jeder sonstigen Ware. Die besonderen Risiken, die sich aus der Anwendung von
Medizinprodukten am lebenden Menschen oder gar aus der Implantation bestimmter Medizinprodukte (z. B. Schrittmacher,
Defibrillatoren, Gefäßprothesen, Gelenkprothesen, usw.) ergeben, werden also gesetzlich nicht besonders gewürdigt. Das ProdHG verpflichtet – im Gegensatz zum Arzneimittelgesetz (§ 94 AMG) – den Hersteller auch nicht zur Deckungsvorsorge durch Haftpflichtversicherungen.
Im Ergebnis können die Unterschiede zwischen der Gefährdungshaftung (§ 84 AMG) und der Produkthaftung nach ProdHaftG dazu führen, dass Haftungsansprüche von durch
Medizinprodukte Geschädigten ins Leere laufen, weil der verantwortliche Hersteller nicht ausreichend solvent ist und keine Haftpflichtversicherung einstandpflichtig ist, wie durch den Fall der fehlerhaften Silikon-Brustimplantate der französischen Firma PIP exemplifiziert: Der zuständige Haftpflichtversicherer (Allianz-Versicherung) sieht sich – jedenfalls bisher – nicht in der Leistungspflicht, weil den Produktfehlern kriminelles Handeln zugrunde liege, das ihn gemäß Versicherungsvertrag von seiner Leistungspflicht befreie. Es bleibt abzuwarten, ob und insbesondere wann dieser Fall zu einer – zwangsläufig auf europäischer Ebene herbeizuführenden – Änderung des Medizinprodukterechts bezüglich der Produkthaftung führen wird.
Das
Produkthaftungsgesetz ist die nationalstaatliche Umsetzung einer europäischen Kommissionsrichtlinie aus dem Jahr 1985 in deutsches Recht. Es verlangt mit der Konstruktions- und Entwicklungspflicht vom Hersteller (gemeint ist derjenige, der das Produkt in den Verkehr bringt), dass die Entwicklung des Produktes den Regeln gemäß dem aktuellen Stand der Technik und Wissenschaft folgt. Gemäß § 1Abs. 2 Nr. 5 ProdHG ist Haftung i. W. nur ausgeschlossen,
„… wenn der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte.“
Entsprechend muss der Produktionsprozess dem Stand der Technik (
„Good Manufacturing Practice“, GMP
) genügen. Die
Instruktionspflicht gebietet, den Anwender des Produktes mit sämtlichen Informationen zu versehen, die zur sicheren Anwendung notwendig sind. Wie bei Arzneimitteln besteht eine
Beobachtungspflicht, um bei neu erkannten Risiken Anwender unverzüglich warnen zu können. Alle Prozesse müssen fehlerminimierend organisiert sein (
Organisationspflicht). Grundsätzlich gilt zwar, dass der vermeintlich Geschädigte sowohl den Schaden als auch den Produktfehler (wozu auch fehlerhafte Instruktionen gehören) sowie deren ursächlichen Zusammenhang zu beweisen hat. Es besteht aber insoweit eine Beweislastumkehr, als der Hersteller zu beweisen hat, dass er die genannten Pflichten nicht verletzt hat.
Für nicht zugelassene Arzneimittel in klinischen Prüfungen schreibt § 40 Abs. 1 Ziffer 8 AMG außerdem vor, dass vor der Durchführung eines klinischen Versuches eine sog. Probandenversicherung abzuschließen ist. Die Probandenversicherung schützt sowohl die Teilnehmer der Test- als auch die der Kontrollgruppe. Die Höhe der Probandenversicherung muss in einem angemessenen Verhältnis zu den Risiken der konkreten Studie stehen. Als Mindestdeckungssumme schreibt § 40 Abs. 3 AMG je potenziellen Schadensfall, d. h. für jede teilnehmende Person, 500.000 Euro vor. Je nach den Risiken der konkreten Studie kann eine höhere Deckungssumme geboten sein. Die Beweislast liegt beim Probanden. Ein Schmerzensgeld ist vom Versicherungsschutz nicht erfasst; hier ist der Proband ggf. auf die Verschuldenshaftung der § 823 und § 847 BGB verwiesen oder mit dem Zweiten Schadensrechtsänderungsgesetz (2002) auf § 253 Abs. 2 BGB, wonach Schmerzensgeld nun auch bei Gefährdungshaftungstatbeständen und bei der Vertragshaftung in Betracht kommt.
Arzneimittel sind unvermeidlich mehr oder weniger unsicher, d. h. risikobelastet. Der Geschädigte trägt grds. die Beweislast, dass ein dem Arzneimittel ursächlich zuzuschreibender Schaden eingetreten ist. Kausalität wird dann – beweiserleichternd – angenommen, wenn das Arzneimittel geeignet ist, den Schaden zu verursachen (§ 84 Abs. 2 und 3 AMG). Die Eignung muss anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles festgestellt werden. Beweiserleichternd wirkt auch das Auskunftsrecht des Geschädigten gemäß § 84a AMG. Diese Kausalitätsvermutung hat der pharmazeutische Unternehmer ggf. zu widerlegen. Dies ist für ihn schwierig, da es um Umstände im Gefahrenbereich des Geschädigten geht, über die der Hersteller keine Detailkenntnisse haben kann. Damit weicht das AMG vom ansonsten üblichen Grundsatz ab, dass derjenige die Umstände darzulegen hat, die seiner persönlichen Sphäre entstammen, da nur er nähere Kenntnis der relevanten Umstände hat. Diese Benachteiligung des pharmazeutischen Unternehmers im Vergleich zu anderen Produktherstellern hat der Gesetzgeber jedoch bewusst in Kauf genommen bzw. gewollt.
Der pharmazeutische Unternehmer – das ist derjenige, der das Arzneimittel in den Verkehr bringt – trägt die Beweislast, dass die Fehler nicht im Bereich der Entwicklung oder Herstellung lagen (§ 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG).
Gemäß § 87 AMG bestehen ausnahmsweise aus der Gefährdungshaftung auch Ansprüche auf Schmerzensgeld und nicht nur solche auf Schadenersatz.
Von der Gefährdungshaftung erfasst werden nur Verletzungen an Körper oder Gesundheit oder der Tod, die nicht nur unerheblich sind. Rein subjektive Befindlichkeitsstörungen fallen also ebenso wenig darunter wie all jene Verletzungen bzw. Beeinträchtigungen, die im Lebensalltag allgemein hingenommen zu werden pflegen. Eine Haftung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG gilt zudem nur für Schäden, die nach dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt des in den Verkehrbringens ein vertretbares Maß überschreiten (z. B. gilt Haarausfall unter Zytostatika derzeit als vertretbar). Im Gegensatz zur allgemeinen Produkthaftung umfasst die Gefährdungshaftung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG gerade auch Risiken aus Entwicklungsfehlern, die „in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnten“. Entscheidend ist also die Unvorhersehbarkeit und Unvermeidbarkeit des (Erkennungs-)Fehlers. Die in der Fach- und Gebrauchsinformation als Bestandteil des Fertigarzneimittels genannten Risiken und Nebenwirkungen sind deshalb (gerade) bei der gegebenen Indikation als vertretbar klassifiziert. Wären sie nicht vertretbar, so wäre das Arzneimittel nach § 5 AMG als bedenklich nicht zugelassen worden. Natürlich kann dies im Einzelfall wegen besonderer Bedingungen auf Seiten des Kranken ausnahmsweise nicht gegeben sein; deshalb ist es in jedem Einzelfall Sache des Arztes, die Vertretbarkeit der Risiken und Nebenwirkungen, soweit sie ihm bekannt sein können, zu würdigen. Auf die Haftung des Pharmaunternehmers wirkt sich eine fehlerhafte Würdigung dann jedoch nicht aus.
Die Gefährdungshaftung gilt grundsätzlich nur bei bestimmungsgemäßem Gebrauch (zugelassene indizierende Diagnose, Altersgruppe, Dosis, Applikationsweg, Dauer).
Zur Gefährdungshaftung kann auch eine fehlerhafte oder unvollständige Gebrauchsinformation (Packungsbeilage) oder Fachinformation oder Kennzeichnung des Arzneimittels führen. Hier gilt gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG für die Anwendungsbestimmungen der Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt des Schadenseintritts, indem der Schaden bei sachgerechter Instruktion und damit Anwendung hätte verhindert werden können. Bei nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch (Off-Label-Use) oder unzureichender Aufklärung haftet grundsätzlich der Arzt. Bestimmungsgemäß ist der Gebrauch aber auch dann, wenn er den zugelassenen Angaben des Unternehmers zwar nicht entspricht, in der medizinischen Wissenschaft aber allgemein anerkannt ist oder in der Praxis allgemein angewandt wird und der Unternehmer dies nicht beanstandet hat, obwohl er diese Anwendungen kannte oder hätte kennen können, die der Unternehmer also geduldet hat. Jedenfalls wäre es nicht nachvollziehbar bzw. ungerechtfertigt, die Haftung bei bestimmungswidrigem Gebrauch entfallen zu lassen, wenn der Schaden auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eingetreten wäre.
Der Arzneimittelhersteller ist verpflichtet, seine in Verkehr gebrachten Arzneimittel hinsichtlich vorher noch nicht bekannter Wirkungen, Kontraindikationen, Risiken und Nebenwirkungen zu beobachten. Versäumt er es, unverzüglich vor einem neu erkannten Risiko zu warnen („Rote-Hand-Brief“ bis hin zum Rückruf des Arzneimittels), so zieht dies eine Verschuldenshaftung (und nicht Gefährdungshaftung) nach sich. Ein neu erkanntes Risiko kann in Verbindung mit dem medizinischen Fortschritt als nicht (mehr) vertretbar einzustufen sein. Ebenso aber kann unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts – dank Verfügbarkeit eines besseren Arzneimittels – ein bereits bekanntes (und bisher akzeptiertes) Risiko dieses Produkt als nunmehr nicht weiter vertretbar erscheinen lassen. In beiden Fällen hat das Arzneimittel keine vertretbare Nutzen-Risiko-Bilanz mehr, weshalb ihm die Zulassung entzogen werden muss, sodass sich die Frage der Gefährdungshaftung dann nicht mehr stellt. Der Arzneimittelhersteller haftet für gemäß dem Stand der Wissenschaft unvertretbare, unvorhersehbare Risiken und Nebenwirkungen zu dem Zeitpunkt, an dem das Arzneimittel verkehrsfähig und der Schaden eingetreten ist.
Arzneimittel für die Tiermedizin, homöopathische Arzneimittel, traditionelle pflanzliche Arzneimittel (für beide Gruppen besteht keine Zulassungs-, sondern nur Registrierungspflicht) und sog. Apothekenhausspezialitäten werden von der Gefährdungshaftung des § 84 AMG nicht erfasst; hierdurch verursachte Schäden unterliegen der Deliktshaftung für unerlaubte Handlungen der §§ 823 ff BGB und der Produkthaftung gemäß ProdHG. Haftungsgrundlage kann aber auch für alle unter § 84 AMG fallenden Arzneimittel die Verschuldenshaftung gemäß § 823 BGB sein. Hier jedoch ist der Geschädigte mit dem Nachteil konfrontiert, den immer schwierigen Nachweis eines Verschuldens des Unternehmers führen zu müssen.
Umstritten ist, ob ein wirkungsloses (letztlich also fälschlich zugelassenen) Arzneimittel, also der Schaden der ausbleibenden Wirkung, eine Gefährdungshaftung oder eine Verschuldenshaftung begründet, wenn gleichzeitig ein wirksames Arzneimittel zur Verfügung stand.
Vertretbare Arzneimittelnebenwirkungen und Entschädigungsrecht
Vertretbare Arzneimittelnebenwirkungen
Hier geht es um Nebenwirkungen und Risiken, die mit der Arzneimittelzulassung grundsätzlich als vertretbar im Sinne der Nutzen-Risiko-Bilanz angesehen werden. Nebenwirkung (Synonym: unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW); „adverse drug reaction“) wird im Arzneimittelgesetz definiert als eine schädliche, unbeabsichtigte Reaktion, die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels auftritt.
Nach dem
Transfusionsgesetz umfassen
unerwünschte Ereignisse auch solche, die bei nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch auftreten. Unerwünschte Ereignisse sind alle unerwarteten Komplikationen, auch wenn der Zusammenhang mit der Anwendung eines Blutproduktes zunächst nicht unmittelbar erkennbar ist.
Unerwünschte Begleitwirkungen und Ereignisse sind zu differenzieren in:
-
pharmakodynamisch bedingte, toxische, dosisabhängige Effekte,
-
Entzugsphänomene aufgrund pharmakodynamischer Adaptationen („Toleranz“),
-
pharmakodynamische Interaktionen,
-
-
idiosynkratische, pseudoallergische, dosisunabhängige Reaktionen,
-
allergische, dosisunabhängige Reaktionen,
-
mutagene Effekte,
-
teratogene Effekte,
-
neoplastische Effekte.
Unerwünschte Ereignisse
werden gemäß amtlicher Definition in drei Schweregrade eingeteilt: Sie gelten dann als schwerwiegend, wenn sie tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung oder die Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich machen, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung oder
Invalidität führen oder eine kongenitale Anomalie bzw. einen Geburtsfehler darstellen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) sieht darüber hinaus eine Nebenwirkung auch dann als schwerwiegend an, wenn sie zu Arbeitsunfähigkeit führt.
Verdachtsfall einer Nebenwirkung ist eine schädliche, unbeabsichtigte Reaktion, bei der ein kausaler Zusammenhang zwischen der Reaktion und einem oder mehreren angewendeten Arzneimitteln von einem Angehörigen eines Gesundheitsberufes vermutet wird bzw. Anhaltspunkte, Hinweise oder Argumente vorliegen, die eine Beteiligung des/der Arzneimittel für das Auftreten der Nebenwirkung plausibel erscheinen lassen oder zumindest eine Beteiligung der/des angewendeten Arzneimittel/s daran angenommen wird.
Schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen, die evident andere – innere oder äußere – Ursachen als die Gabe eines bestimmten Medikamentes haben, erfüllen nicht die Definition einer Nebenwirkung dieses Arzneimittels. Dazu gehören z. B. Symptome, die eindeutig Ausdruck der Grund- oder Begleiterkrankung des Patienten einschließlich deren Fortschreitens sind. Diese Reaktionen unterliegen nicht der Meldepflicht.
Eine Meldepflicht
des pharmazeutischen Unternehmers besteht aber immer, sobald von einem Angehörigen eines Gesundheitsberufes der Verdacht einer Nebenwirkung geäußert wird. Nach der Berufsordnung (§ 6 Musterberufsordnung) für die deutschen Ärzte ist der Arzt verpflichtet, ihm aus seiner Verordnungstätigkeit bekannt werdende
unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und bei
Medizinprodukten auftretende Vorkommnisse der zuständigen Behörde (BfArM) mitzuteilen; die AkdÄ übermittelt die Meldung an das BfArM.
Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben am 31. Dezember 2010 die Richtlinie 2010/84/EU zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel hinsichtlich der Pharmakovigilanz
erlassen. Die Umsetzung in nationales Recht ist seit 01. April 2014 durch die 16. AMG-Novelle erfolgt. In diesem Zusammenhang werden u. a. die Meldepflichten konkretisiert. Alle Nebenwirkungen werden von der Bundesoberbehörde (Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte, BfArM) müssen an eine zentrale
Datenbank (EudraVigilance-Datenbank) gemeldet werden.
Unerwünschte Begleitwirkungen werden gemäß amtlicher Regelung entsprechend den europäischen Empfehlungen nach ihrer Inzidenz klassifiziert in „sehr häufige“ (> 10 %), „häufige“ (1–10 %), „gelegentliche“ (0,1–1 %), „seltene“ (0,01–0,1 %) und „sehr seltene“ (< 0,01 %).
Die Empfänglichkeit für Nebenwirkungen hängt von Faktoren wie Diagnose, Alter, Geschlecht, Ernährungszustand, Begleiterkrankungen, Begleitmedikationen (Interaktionen), genetischen Faktoren der metabolisierenden
Enzyme (
Pharmakokinetik) und Sensitivität der Rezeptoren (
Pharmakodynamik) ab.
Pharmakokinetische Interaktionen und daraus resultierende Nebenwirkungen ergeben sich aus Konkurrenz an metabolisierenden mikrosomalen Cytochrom-P450-abhängigen Enzymen (CYP) sowie Hemmung oder Induktion dieser Enzyme; im Interesse einer sicheren Pharmakotherapie bedarf es der Kenntnis der beteiligten
Isoenzyme.
Die Wahrscheinlichkeit, mit der im individuellen Behandlungsfall subjektiv wahrnehmbare Nebenwirkungen zu erwarten sind, lässt sich nur aus der Häufigkeit ableiten, mit der sie in kontrollierten Studien beobachtet wurden. Subjektiv wahrnehmbare, unangenehme Begleitwirkungen sind in der ambulanten Therapie weniger akzeptabel und häufiger Absetzgrund als in der stationären Behandlung.
Unerwünschte Ereignisse unterscheiden sich also zwischen ambulanter und stationärer Therapie in ihrer Häufigkeit, aber auch in ihrer Art.
Die Inzidenzen lassen sich wegen der Heterogenität der Untersuchungsbedingungen, Gruppen, Dosierungen,
Bioverfügbarkeit (Plasmakonzentration, meist nicht gemessen) und Erfassungsmethode nicht zwanglos verallgemeinern.
Pharmakodynamisch bedingte Begleitwirkungen erklären sich im Wesentlichen aus den Rezeptor-Bindungs-Profilen, wenn sie auch im Einzelfall sehr variabel ausgeprägt sind. Dasselbe gilt für pharmakodynamische Interaktionen. Die meisten pharmakodynamisch erklärbaren Nebenwirkungen treten akut, d. h. abhängig vom Applikationsweg (intravenös oder oral) in Minuten bis wenigen Stunden auf. Sie lassen sich also am leichtesten verstehen, wenn man das jeweilige Rezeptor-Bindungs-Profil und die den Rezeptoren zuzuordnenden Begleitwirkungen kennt.
Pharmakodynamisch bedingte, toxische, dosisabhängige Effekte sind eher häufig und typisch nicht nur für einzelne Arzneimittel, sondern für Arzneimittel mit vergleichbaren Wirkmechanismen, also Wirkungen an denselben Rezeptoren oder anderen Zielstrukturen. Wenn die gewünschte Wirkung über dieselben Rezeptoren wie Nebenwirkungen vermittelt wird, bedingt ihre Dosisabhängigkeit, dass bei unzureichender Wirkung die Versuchung zur Dosissteigerung und damit auch nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch besteht.
In Großbritannien besteht seit Jahren eine Meldepflicht. Bei der
Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA;
www.mhra.gov.uk) der britischen Regierung erlaubt das „Yellow Card System“ grundsätzlich eine Quantifizierung unerwünschter Arzneimittel bezogen auf die Verordnungsvolumina; dazu bedarf es aber spezifischer Sonderanalysen. Dort finden sich auch aktuelle Warnhinweise und Assessment Reports zu Arzneimitteln und
Medizinprodukten. Zu jedem Wirkstoff stellt die MHRA tabellarisch die Zahl gemeldeter Fälle nach Art der Nebenwirkung im Internet zur Verfügung.
Nebenwirkungen haben hohe epidemiologische Relevanz. Für die USA wird mit jährlich 770.000 Todesfällen infolge unerwünschter Ereignisse unter Arzneimitteltherapie gerechnet (Classen et al.
1997; Cullen et al.
1997). Ungefähr 10 % aller Krankenhausaufnahmen sollen einer Arzneimitteltherapie zuzuschreiben sein (Oscanoa et al.
2017). Vermeidbar sind unerwünschte Ereignisse insbesondere dann, wenn ihnen ein Verordnungs- oder Einnahmefehler zugrunde liegt. In einer Studie (Bates et al.
1995) waren 56 % der unerwünschten Ereignisse bei stationären Patienten Fehlern bei der Medikamentenausgabe zuzuschreiben, 34 % bei der Einnahme. In einer prospektiven Analyse von 18.820 Krankenhausaufnahmen (Pirmohamed et al.
2004) Erwachsener (> 16 Jahre) lag bei 6,5 % eine Arzneimittelnebenwirkung ursächlich zugrunde, wobei in 80 % der Fälle die Nebenwirkung die alleinige Ursache war. 4 % der Belegungstage (entsprechend 466 Mio. £) waren diesen Nebenwirkungen anzulasten. 0,15 % endeten tödlich.
Bei Kindern und Jugendlichen wurden Nebenwirkungen signifikant gehäuft unter systemischer Pharmakotherapie, neu zugelassenen Arzneimitteln,
Antibiotika (antibakteriellen Arzneistoffen) und Neuropsychopharmaka (insbesondere
Antidepressiva (Noradrenalin/Serotonin-verstärkende Arzneistoffe),
Antipsychotika (Antagonisten an mulstiplen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (mGPCR-Antagonisten)) beobachtet. Gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie besteht das Problem, dass viele Arzneimittel ohne behördliche Zulassung, also off-label, angewendet werden (Solmi et al.
2020).
In einem Pflegeheimkollektiv bedurften 15,7 % der Bewohner in einem Zeitraum von 4 Jahren der Hospitalisierung wegen Nebenwirkungen (Cooper
1999), wobei nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR, Cyclooxygenase-Inhibitoren) als Auslöser führten (Oscanoa et al.
2017). Eine
Metaanalyse auf der Basis einer systematischen Literaturrecherche identifizierte 108 Publikationen über 412.000 Patienten (Wiffen et al.
2002). Danach lagen 7 % der Krankenhausaufnahmen Arzneimittelnebenwirkungen zugrunde, die 4 % der Belegungstage begründeten. Mit den zur Hospitalisierung führenden Arzneimittelnebenwirkungen war höheres Alter (insbesondere über 70 Jahre) und Polypharmakotherapie (Polypharmazie) assoziiert, außerdem bestimmte Medikamentengruppen:
Antibiotika, Antikoagulanzien (insbesondere Vitamin K-Antagonisten), Digitalisglykoside (
Natrium/Kalium-ATPase-Inhibitoren), Schleifendiuretika (NKCC-Inhibitoren), Thiaziddiuretika (NCC-Inhibitoren), Antidiabetika (insbesondere Sulfonylharnstoffe) und nichtsteroidale Antirheumatika, die insgesamt für 60–70 % aller hospitalisationsbedürftiger Arzneimittelnebenwirkungen verantwortlich waren. Eine Metaanalyse zur Inzidenz schwerwiegender oder tödlicher Arzneimittelnebenwirkungen (Lazarou et al.
1998) fand eine Rate von 6,7 % für schwerwiegende und 0,3 % für tödliche Nebenwirkungen.
Daraus wurde geschätzt, dass Arzneimittelnebenwirkungen die viert- bis sechsthäufigste Todesursache darstellen.
Entschädigungsrechtliche Bedeutung
Arzneimittel-bedingte Schäden sind – wohlgemerkt ohne die Gefährdungshaftung des Herstellers (§ 84 AMG) auszulösen – dann als mittelbare Schädigungsfolgen
anzuerkennen, wenn
-
das verantwortliche Arzneimittel der Behandlung einer Schädigungsfolge diente,
-
die Voraussetzungen von § 84 AMG nicht erfüllt sind und
-
die Pharmakotherapie sachgerecht (dazu gehört auch die Aufklärung mit wirksamer
Einwilligung) erfolgte.
Erfolgte die Pharmakotherapie nicht sachgerecht (gemäß dem allgemein anerkannten Standard), so ist der Arzneimittelschaden
arzthaftungsrechtlich zu bewerten. Lag eine Therapie mit einem fehlerhaften Arzneimittel zugrunde, so ist die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers zu prüfen.
Einige Beispiele mögen dies illustrieren. Wird etwa eine
posttraumatische Belastungsstörung entschädigungsrechtlich anerkannt, so sind ggf. auch die Nebenwirkungen der Pharmakotherapie – soweit sie unvermeidlich sind – als Schädigungsfolge anzuerkennen. Hätten die Nebenwirkungen vermieden werden können, so stellt sich die arzthaftungsrechtliche Frage.
Entschädigungsrechtlich
relevante organische Schäden des Gehirns können die Behandlung mit Neuropsychopharmaka notwendig machen. Dies gilt z. B. für eine mit Antikonvulsiva (
Antiepileptika) zu behandelnde postkontusionelle
Epilepsie, aber auch für eine mit
Antipsychotika zu behandelnde Kontusionspsychose oder eine organisch bedingte, mit
Antidepressiva zu behandelnde Depression. Wird also z. B. eine Epilepsie, eine Psychose, eine
Demenz oder eine Depression entschädigungsrechtlich anerkannt, so sind ggf. hier auch die Nebenwirkungen der Pharmakotherapie als Schädigungsfolge anzuerkennen. Führt die bei Kontusionspsychose ggf. notwendige pharmakologische Sedierung oder ein Antipsychotika-induziertes Parkinsonoid mittelbar durch die Immobilisierung zu thrombembolischen Komplikationen, so ist diese Komplikation entschädigungsrechlich relevant – sofern die ursächliche Pharmakotherapie sachgerecht war und die gebotenen Maßnahmen zur Thromboseprophylaxe ergriffen wurden.
Andererseits ist bei exogenen Schäden zu prüfen, ob nicht eine vorbestehende Krankheit und deren Therapie, hier also etwa die Pharmakotherapie einer neuropsychiatrischen Krankheit, wesentlich oder entscheidend zum Eintritt des Schadens beigetragen hat. Im hier gegebenen Zusammenhang kann es nicht um den möglichen Beitrag der z. B.
psychischen Krankheit gehen (etwa Unfall wegen Unaufmerksamkeit bei Manie oder schizophrener Psychose oder Suizidversuch als Verkehrsunfall anlässlich einer berufsbedingten Autofahrt), sondern nur um den Beitrag der Pharmakotherapie vorbestehender Störungen. Hier kommt bei allen Neuropsychopharmaka in allerdings substanzabhängig und interindividuell variablem Ausmaß die Möglichkeit verminderter Reaktionsfähigkeit in Frage. Dasselbe gilt für Antikonvulsiva.
Besonders trizyklische
Antidepressiva und
Antipsychotika (und hier speziell
Clozapin) können Unfälle durch
orthostatische Hypotonie,
epileptische Anfälle und
Aufmerksamkeitsstörungen (bis hin zu
Verwirrtheit und
Delir) provozieren, dies vor allem zu Beginn der Behandlung. Unter
Benzodiazepinen können in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einnahme neben der Sedierung Verwirrtheiten (mit anterograder Amnesie) auftreten. Außerdem können Benzodiazepine durch Koordinationsstörungen (bis hin zur klinisch manifesten Ataxie) Gefahren heraufbeschwören. Die Muskelrelaxation kann zu schweren Stürzen mit Schenkelhalsfraktur führen. Andererseits können Pharmaka, die Schlaflosigkeit verursachen, durch das Schlafdefizit die Leistungsfähigkeit am Tage beeinträchtigen.
Bei sehr seltenen Nebenwirkungen ist die Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs sehr viel schwieriger. Viele Arzneimittel, zum Beispiel Sulfonamide,
Methotrexat und
Metamizol (Novaminsulfon, Metamizol®) können zu schweren Störungen des hämatopoetischen Systems mit Agranulozytose,
aplastischer Anämie,
Thrombozytopenie oder Panmyelophthise führen und damit zur mittelbaren Todesursache werden. Solche Komplikationen sind im Unfallversicherungsrecht als mittelbare Unfallfolge anzuerkennen.
Derartige Nebenwirkungen sind außerordentlich selten, weil sie – wenn auch in den Fachinformationen genannt – als unvertretbar anzusehen sind. Diese Blutdyskrasien treten auch spontan auf. Die Inzidenz der spontanen Agranulozytose liegt bei 0,5–3,4 pro 1.000.000 Personen und Jahr, die der
aplastischen Anämie bei 2–3 pro 1.000.000 Personen und Jahr (Hamerschlak et al.
2005). Indem die Blutdyskrasien auch spontan und unter Arzneimitteln gleichzeitig sehr selten auftreten, muss versucht werden, die Zusammenhangsfrage anhand der statistischen Wahrscheinlichkeiten zu klären. Aus Populationsstudien ergibt sich, dass ggf. von den Aussagen der Fachinformation nicht zwangsläufig auf ein erhöhtes Risiko geschlossen werden kann.
Praktische Durchführung der pharmakologischen Begutachtung
Die in diesem Abschnitt gegebenen praktischen Hinweise beziehen sich primär auf die pharmakologische Begutachtung. Aber die diskutierten Aspekte lassen sich in etlichen Aspekten auch auf andere Gebiete der ärztlichen Begutachtung übertragen und anwenden. Die Hinweise haben sich aus jahrelanger umfangreicher Begutachtungstätigkeit ergeben.
Die Begutachtung von Arzneimittelschäden bzw. vermuteten Arzneimittelschäden ist in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen sehr viel komplexer und aufwändiger geworden. Zunächst sei vorausgeschickt, dass Vorwürfe einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung meist nicht begründet sind. In einer aktuellen Übersicht betrug der Prozentsatz wahrscheinlicher Behandlungsfehler im Obduktionsgut des Universitätsklinikums Eppendorf (Hamburg) nur 1,9 % (Klusen und Püschel
2021).
Für die pharmakologische Begutachtung hat sich eine bestimmte Reihenfolge als nützlich erwiesen, die von Gerichten und Versicherungsträgern gleichermaßen geschätzt wird. Tab.
1. fasst den prinzipiellen Aufbau eines pharmakologischen Gutachtens
zusammen.
Tab. 1
Aufbau eines pharmakologischen Gutachtens: Die 12 Abschnitte
1 | Absender des Gutachtens und Empfänger des Gutachtens (Auftraggeber), Datum | Es ist empfehlenswert, die Position (z. B. Institutsdirektor, ordentlicher Universitätsprofessor) und Qualifikation (Dr. med., Habilitation, Facharztanerkennung) aufzulisten, um dem Gutachten die entsprechende Autorität zu verleihen. Es kommt immer wieder vor, dass die Qualifikation des Gutachters angefochten wird. |
2 | Name des Begutachteten, Verfahrenstyp, Aktenzeichen | Im Fettdruck als Überschrift hervorheben; größerer Font und Zentrierung erleichtern die Lesbarkeit |
3 | Zusammenfassung des bisherigen Verfahrens | Darstellung des bisherigen Verfahrens. Je nach Komplexizität und Wunsch des Auftraggebers kann und muss diese Darstellung knapp oder ausführlich sein. Es wird empfohlen, diesen Punkt vor der eigentlichen Erstellung des Gutachtens mit dem Auftraggeber abzusprechen. |
4 | Fragestellung | Darstellung der Fragestellung des Auftraggebers. Meist empfiehlt es sich, nicht wörtlich die Ausführungen des Auftraggebers zu wiederholen, sondern in eigenen Worten die Fragestellung fachgerecht darzustellen. Fast immer ist der Auftraggeber nicht vom Fach und kann daher die Fragestellung nur ungefähr darstellen. Eine Untergliederung der Fragestellung in Einzelpunkte ist dringend anzuraten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine Optimierung der Fragestellung durch den Gutachter von allen Verfahrensparteien geschätzt wird. Wichtig ist selbstverständlich sicherzustellen, dass kein Aspekt der Fragestellung vergessen oder unterschlagen wird. |
5 | Medikation | Textliche und tabellarische Darstellung der Medikation. Dauer der Therapie und Dosierung sollten in Form einer Tabelle angegeben werden. Außerdem sollten unbedingt nicht nur die Handelsnamen (Handelspräparate) angegeben werden, sondern auch die internationalen Freinamen (INN) der in dem Arzneimittel enthaltenen Arzneistoffe. Dies stellt eine wesentliche Brücke zur wissenschaftlichen Literatur dar, die fast ausschließlich die internationalen Freinamen erwähnt. In der Tabelle bietet sich eine Nummerierung der Arzneistoffe an. |
6 | Pharmakologische Charakterisierung der Arzneistoffe | Darstellung der wesentlichen für die Begutachtung relevanten Eigenschaften der Arzneistoffe. Hier sollte keinesfalls eine Lehrbuchdarstellung erfolgen, sondern eine Darstellung, die dem Zweck des Gutachtens entspricht. |
7 | Beantwortung der Fragestellung | Jeder Einzelpunkt der Fragestellung sollte hier klar und unzweifelhaft beantwortet werden. Vor jedem Abschnitt sollte die Teilfragestellung als Überschrift wiederholt werden. Wichtig ist es, Schlussfolgerungen mit relevanter aktueller Literatur (bevorzugt deutschsprachig, aber auch international) zu unterfüttern. |
8 | Zusammenfassende Beurteilung und Darstellung breiterer Zusammenhänge | Dieser Abschnitt stellt den wichtigsten Teil des Gutachtens dar und fasst die Ausführungen der Abschnitte 1–6 zusammen. Entscheidend ist es, zu einer eindeutigen Aussage und Beurteilung zu gelangen. Wenn möglich sollten Wahrscheinlichkeiten für das Zutreffen der Schlussfolgerung gemacht werden. Die Angabe von Wahrscheinlichkeiten richtet sich nach der Literatur und den in den Fachinformationen gemachten Aussagen über die Häufigkeit von unerwünschten Wirkungen. Sollte keine eindeutige Beurteilung möglich sein, so sollte dies auch klar formuliert werden. Dieser Abschnitt gibt dem Gutachter auch die Möglichkeit, breitere Zusammenhänge darzustellen, z. B. Versagen von Institutionen, Kommunikationsprobleme, mögliche Mitverantwortung anderer Personen, Verantwortung des Geschädigten, Beurteilung etwaiger Vorgutachten und von Gutachten anderer Fachrichtungen. Wenn breitere Zusammenhänge ausführlicher dargestellt werden sollen oder müssen, eignet sich dafür ggf. ein eigener Abschnitt. |
9 | Unterschrift | Falls ein elektronisches Gutachten angefordert wird, sollte der Ausdruck des Gutachtens mit blauem Stift unterschrieben und als gescannter pdf verschickt werden. Alternativ kann eine blaue eingescannte Unterschrift in ein word-Dokument eingesetzt werden und dann als pdf verschickt werden. Es ist sicherzustellen, dass das Gutachten nur an den legitimen Email-Empfänger gelangt und nicht versehentlich in unbefugte Hände. |
10 | Lebenslauf und Schriftenverzeichnis | Besonders in Fällen, bei denen die Qualifikation des Gutachters bestritten wird oder im Falle von Zweitgutachten (Obergutachten) empfiehlt es sich, einen aktuellen Lebenslauf beizulegen. Ein aktuelles und aussagekräftiges Schriftenverzeichnis erhöht ebenfalls die Autorität des Gutachters |
11 | Literaturverzeichnis | Verzeichnis der zitieren Literatur. Eine eindeutige Identifizierung (Autor Titel, Zeitschrift, Buchtitel, Erscheinungsjahr, Seitenzahlen. Verlag) der zitierten Literatur ist erforderlich. Die Literatur sollte nummeriert sein |
12 | Anlagen | Vollständige Kopien der zitierten Literatur. Die Kopien sollten entsprechend dem Literaturverzeichnis nummeriert sein. Relevante Passagen sollten mit Textmarker hervorgeheben werden |
Ein großes Problem in der Begutachtung von (vermuteten) Arzneimittelschäden ist die zunehmende Spezialisierung (Versäulung) der Medizin, die die „Zuständigkeitsbereiche“ für eine gegebene Medikation immer stärker einschränkt und dazu führt, dass Facharztvertreter nicht übersehen, dass eine Medikation für „ihre“ Indikation, UAW in einem ganz anderen Fachgebiet verursachen kann. Ein klassisches Beispiel dafür sind die
Osteonekrosen im Kiefer (Zahnmedizin) bei Verschreibung von Bisphosphonaten oder Denosumab durch Orthopäden bei der Indikation
Osteoporose (Lee et al.
2014).
Mit dem Problem der Spezialisierung der Medizin assoziiert ist die zunehmender Komplexizität und Arbeitsteiligkeit in der Medizin, die leicht zu Kommunikationsfehlern und damit Medikationsfehlern führen kann. In einigen, insbesondere ländlichen, Regionen gibt es in vielen Fächern ein Arztmangel, sodass zunehmend Ärzte eingestellt werden, die nicht Deutsch als Muttersprache sprechen. Dies führt zu weiteren Kommunikationsproblemen.
Eine besonders wichtige Rolle in pharmakologischen Begutachtungsfragen spielt die Qualität der herangezogenen Fachliteratur. Es gibt Begutachtungsfälle, bei denen bereits Lehrbücher ausreichend sind, um zu einer Beurteilung zu gelangen (Seifert
2021a). In vielen Fällen liefert auch die deutschsprachige Fachliteratur wichtige Unterstützung für die Begutachtung. Sehr gut geeignet sind der monatlich erscheinende Arzneimittelbrief und das Arznei-Telegramm, die von Industrieinteressen unabhängige kritische Informationen zu Arzneimitteln publizieren; insbesondere auch zu Nebenwirkungen. Eine bedeutende Rolle bei Begutachtungen spielen auch die „Rote-Hand-Biefe“ des Bundesinstituts für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM). Ebenso finden sich im Deutschen Ärzteblatt oft wichtige Informationen für die Begutachtung von Arzneimittelfragen. Das Deutsche Ärzteblatt ist insofern von herausragender Bedeutung, als diese Zeitschrift jedem Arzt wöchentlich zugestellt wird. Es wird in Begutachtungsfragen regelmäßig davon ausgegangen, dass jeder Arzt über die darin besprochenen Arzneimittelthemen informiert ist.
Gerade im Begutachtungswesen spielen die Fachinformationen für Arzneimittel eine zentrale Rolle. Es wird regelmäßig davon ausgegangen, dass der verschreibende Arzt mit den in der Fachinformation niedergelegten Inhalten vertraut ist und dementsprechend handelt. Leider sind die Fachinformationen jedoch oft sehr unübersichtlich aufgebaut, und auch ein aktuelles Überarbeitungsdatum garantiert nicht notwendigerweise auch eine Dokumentation entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Insofern wird in Begutachtungsfragen auch erwartet, dass ein Arzt außer der Fachinformation im angemessenen Umfang auch die einschlägige Fachliteratur liest (z. B. Deutsches Ärzteblatt) und sich in der internationalen Fachliteratur informiert. In der von den National Institutes of Health der USA unterhaltenen
Datenbank pubmed findet man rasch die wichtigste medizinische Literatur. Die Recherchen werden nach Jahren sortiert, sodass es sehr einfach ist, die aktuelle Literatur zu finden. Zwar ist leider noch immer nur ein geringer Anteil der wissenschaftlichen Literatur als Volltext frei verfügbar, aber zumindest die Abstracts (Zusammenfassungen) sind vollständig publiziert. Dem eiligen und viel beschäftigten Arzt wird es einfach gemacht, die wichtigste Information aus den Artikeln mitzunehmen, wenn er sich auf den letzten Absatz (Conclusions) fokussiert.
Bei der Recherche ergibt sich jedoch häufig das Problem des exponentiellen Wachstums der verfügbaren Literatur. Dies macht es in vielen Fällen unmöglich, die pharmakologische Originalliteratur zu studieren. In diesen Fällen wird empfohlen, die Literatursuche für ein bestimmtes Gebiet mit den Stichworten „x and review and meta-analysis“ zu kombinieren. Mit dieser sehr effektiven Vorgehensweise lassen sich sehr rasch die wichtigsten Übersichtsarbeiten und der wissenschaftliche Konsens zu Arzneimitteln identifizieren. Allerdings sollten Reviews und Meta-Analysen keineswegs unkritisch betrachtet werden, denn in etlichen Fällen haben die Autoren Interessenkonflikte mit der pharmazeutischen Industrie, was die Objektivität der Beurteilung erschwert. Interessenkonflikte müssen zwar deklariert werden, sind aber nur im Volltext verfügbar.
Eine weitere wichtige Quelle für arzneitherapeutische Begutachtungsverfahren ist der Arzneiverordnungsreport (AVR), der jährlich herausgegeben wird (Ludwig et al.
2021). Darin werden kritisch und frei von Industrieinteressen alle relevanten Arzneiverordnungsgebiete in Deutschland analysiert.
Die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) werden ebenfalls sehr häufig für arzneitherapeutische Begutachtungen herangezogen. In aller Regel sind die Leitlinien, die in verschiedenen Evidenzgrade unterteilt werden, balanciert und ausgewogen, aber in Einzelfällen gibt es immer wieder mehr oder weniger gut apparente Interessenkonflikte mit der pharmazeutischen Industrie. Es ist wichtig zu betonen, dass Leitlinien, wie der Begriff es besagt, lediglich Leitlinien sind und im einzelnen Behandlungsfall eine davon abweichende Medikation gegeben werden kann. Dies muss medizinisch begründet sein.
Oft ist es auch die Aufgabe des pharmakologischen Gutachters, die
Validität von Internetquellen zu validieren. Es ist inzwischen bedauerlicherweise so, dass sich für fast jede arzneitherapeutische Meinung ein passendes Internet-Zitat finden lässt. Oft ist es sehr schwierig, die Seriosität von auf ersten Blick „professionellen“ Internetquellen zu beurteilen. Für Seriosität sprechen eine klar definierte, namentliche Zuordnung von Inhalten und eine sorgfältige Referenzierung mit wissenschaftlich anerkannten Zeitschriften. Leider ist es auch für ausgewiesene Pharmakologen immer schwieriger geworden, sogenannte „predatory journals“ (Raubjournale) zu erkennen. Dabei handelt es sich um Journale, die auf den ersten Blick seriös erscheinen, aber kein Peer-Review-Verfahren haben und unkritisch (gegen Bezahlung) auch falsche Inhalte publizieren.
Gerade im Bereich der Arzneimitteltherapie muss auch berücksichtigt werden, dass sich der Wissensstand innerhalb sehr kurzer Zeiträume ändern kann. Als aktuelles Beispiel sei hier die vermutete positive Wirkung von
Chloroquin bei der COVID-19-Erkrankung geannt, die jedoch innerhalb kürzester Zeit in sich zusammenfiel (Kim et al.
2020). Gerade in pharmakologischen Begutachtungen besteht jedoch häufig ein großes zeitliches Intervall zwischen dem zu begutachtenden Ereignis und dem Begutachtungszeitpunt. Es ist daher sehr wichtig, bei Begutachtungen zu Arzneimitteln nicht nur den aktuellen Literaturstand zu berücksichtigen, sondern den Wissensstand zum Zeitpunkt des Ereignisses. Daher kann es aus Gutachtersicht nur dingend empfohlen werden, auch ältere Auflagen von Lehrbüchern und Referenzwerken zu archivieren, um eine adäquate Begutachtung „aus historischer Sicht“ durchführen zu können. Dieser Aspekt wird häufig in seiner Bedeutung für die Begutachtung unterschätzt.
Kommt es in Begutachtungsverfahren zu mündlichen Verhandlungen, so besteht eine weitere Herausforderung für den pharmakologischen Gutachter oft darin, komplexe pharmakologische Inhalte in laiengerechter Sprache zu kommunizieren. Dies ist jedoch viel schwieriger als man auf dem ersten Blick meinen mag, denn das Thema „Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte an Laien“ stand bislang im Hochschulstudium in den meisten Studiengängen nicht auf dem Lehrplan. Es gibt jedoch Literatur, die die laiengerechte Kommunikation pharmakologischer Inhalte unterstützt (Seifert
2021b). Auch die Anfertigung von
Grafiken kann die Vermittlung pharmakologischer Inhalte unterstützen.
Alle die oben diskutierten Faktoren müssen bei einer Begutachtung zur Beurteilung von Arzneimittelschäden berücksichtigt werden. Für eine sachgerechte Begutachtung ist nicht nur ein intensives Aktenstudium erforderlich, sondern auch intensives Studium der deutschsprachigen und internationalen Fachliteratur sowie von Internetquellen. Außerdem müssen ggf. von einer Partei beigebrachte Quellen und Zitate alle kritisch hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes überprüft werden.
Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor in pharmakologischen Begutachtungen spielt der Nozebo-Effekt. Der Nozebo-Effekt besagt, dass allein durch negative Erwartung, Suggestion, Fehlinformationen oder gesellschaftliche Erwartungen eine Nebenwirkung auftreten kann, ohne dass dabei das eigentliche Arzneimittel eine Rolle spielt (Mostafaei et al.
2020). Oft handelt es sich bei Nozebo-Effekten um Beschwerden, die nur schwer objektivierbar sind wie
Schmerzen, Konzentrationsstörungen oder Erschöpfung.
Ein wichtiger Faktor in der pharmakologischen Begutachtung ist auch die Eigenmedikation (Selbstmedikation) des Patienten. In aller Regel ist die Eigenmedikation in Begutachtungsfällen nicht oder nur sehr unzureichend dokumentiert oder wird absichtlich verschwiegen oder in der Dosis reduziert. Oft ist der Patient sich dessen nicht bewusst, dass eine Eigenmedikation durchaus gefährlich sein kann (Paradebeispiel
Paracetamol) (Lennecke und Hagel
2021; Seifert
2021a). Oft wird auch von Seiten des Patienten unterschätzt, dass eine Medikation mit „natürlichen“ Medikamenten wie pflanzlichen Arzneimitteln, ganz erhebliche Wechselwirkungen mit vom Arzt verschriebenen Arzneimitteln verursachen kann.
Immer wieder taucht in pharmakologischen Begutachtungsfällen die Problematik unleserlicher Handschrift auf. Oft ist die Dosierung oder die Einnahme-Anweisung eines Arzneistoffs unklar. Auch kommen durch unleserliche Handschrift immer wieder Verwechslungen vor (z. B.
Metamizol und Thiamazol; Acetylsalicylsäure und Aminosalicylsäure) (Seifert
2021a).
Es wird dringend angeraten, bei allen arzneimittelrelevanten Begutachtungen eine ausführliche Literaturdokumentation beizufügen, und zwar nicht nur mit den entsprechenden Zitaten, sondern den ausgedruckten Quellen. Wichtige Passagen in den Quellen sollten unbedingt markiert werden. In komplexen Fällen können pharmakologische Gutachten zur Beurteilung von Arzneimittelschäden leicht einen Umfang von 5–10 Seiten (DIN A 4, einzeilig, 10–12er Font) erreichen. Referenzlisten von 10–20 Zitaten sind nicht unüblich. Die beigefügte vollständig dokumentierte Literatur kann leicht einem Umfang von 50–250 Druckseiten erreichen.
Gerade bei pharmakologischen Gutachten lohnt es sich sehr, einen hohen Dokumentationsaufwand zu betreiben, um möglichst wenig anfechtbar zu sein und das Verfahren möglichst rasch zu einem Abschluss zu bringen. Dies ist umso bedeutsamer, als man es bei pharmakologischen Begutachtungen meist mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hat. Dies bedeutet, dass es in vielen Fällen unmöglich sein wird, mit absoluter Sicherheit einen Kausalzusammenhang zwischen einer Arzneimittelgabe und einem vermuteten Arzneimittelschaden zu beweisen.
Letztere Wahrscheinlichkeitsproblematik wird zukünftig in pharmakologischen Begutachtungen an Bedeutung gewinnen. Gerade Arzneimittel für seltene Erkrankungen (orphan drugs) werde meist ohne eine umfängliche klinische Prüfung zugelassen, sodass eine Einordnung etwaiger Arzneimittelschäden nur sehr schwer möglich ist (Darrow et al.
2020). Eine ähnliche Problematik findet sich bei zielgerichteten Tumortherapeutika (targeted therapeutics), die für seltene Tumorformen zugelassen werden und im Verlauf ihrer klinischen Anwendung sehr unerwartet Nebenwirkungen zeigen (Wang et al.
2018). Als letzter Punkt sei erwähnt, dass in die pharmakologische Begutachtung nicht nur die Ergebnisse klinischer Studien einfließen dürfen, sondern auch die Ergebnisse von „real-world“-Studien (Halling et al.
2021).
Zusammenfassend ergibt sich, dass die pharmakologische Begutachtung von (vermuteten) Arzneimittelschäden sehr komplex ist und breite Expertise erfordert. Die in diesem Abschnitt diskutierten Punkte geben eine Richtschnur, welche Aspekte im individuellen Begutachtungsfall im unterschiedlichen Ausmaß berücksichtigt werden müssen. Tab.
2. fasst noch einmal wichtige inhaltliche Punkte zusammen, die bei der Erstellung eines pharmakologischen Gutachtens beachtet werden müssen.
Tab. 2
Wichtige inhaltliche Punkte, die bei der Erstellung eines pharmakologischen Gutachtens bedacht sein müssen: 12 Punkte für die Checkliste
1 | Versäulung der Medizin | Zunehmende Spezialisierung in der Medizin bereitet zunehmend Schwierigkeiten, eindeutige Verantwortlichkeiten zuzuordnen. Oft spielt der Hausarzt eine zentrale Rolle, bei der die Informationen über die Medikation zusammenlaufen. Daher wird in pharmakologischen Gutachtenfragen erwartet, dass jeder behandelnde Arzt (Facharzt oder Krankenhausarzt) mit dem Hausarzt Rücksprache über die Medikation hält. |
2 | Mangelhafte Deutschkenntnisse von Ärzten | Durch den generellen Arztmangel (besonders gravierend in ländlichen Regionen und in bestimmten Fächern wie der Psychiatrie) werden häufig Ärzte eingestellt, die der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtig sind. Mangelhafte Sprachkompetenz kann die fachgerechte Beurteilung von Verantwortlichkeiten und Zusammenhängen stark erschweren. |
3 | Mangelhafte Qualität von Patientenunterlagen | Leider sind viele Unterlagen, die zur pharmakologischen Begutachtung herangezogen werden müssen, noch immer handschriftlich und von schlechter Qualität. Dies erschwert oft die eindeutige Beurteilung von Arzneistoffen, Dosierungen und Einnahmeplänen. Daher sind oft Rücksprachen mit Auftraggebern und Ärzten erforderlich, was zu Verzögerungen im Verfahren führt. |
4 | Qualität wissenschaftlicher Literatur | Es wird oft unterschätzt, dass ein erheblicher Anteil der klinisch-pharmakologischen Literatur nicht frei von Industrie-Interessen ist und daher Interessenkonflikte der Autoren mit wissenschaftlichen Inhalten bestehen. Es wird empfohlen, die zitierte Literatur auf Interessenkonflikte hin zu analysieren. Oft eignen sich für Begutachtungszwecke umfangreiche Meta-Analysen. Wenn möglich, sollten mehrere voneinander unabhängige Meta-Analysen zur Urteilsfindung herangezogen werden. |
5 | Fachinformationen | Fachinformationen gelten in vielen pharmakologischen Begutachtungsverfahren als „Goldstandard“, da diese Informationen verschreibenden Ärzten leicht zugänglich ist. Leider sind Fachinformationen sehr unübersichtlich aufgebaut, was die Fehleranfälligkeit erhöht und es wahrscheinlicher macht, dass wichtige Informationen übersehen werden. Außerdem garantiert ein aktuelles Überarbeitungsstand leider nicht immer einen aktuellen wissenschaftlichen Wissensstand. Dieser Tatbestand ist vielen Ärzten sowie Juristen noch immer nicht ausreichend bekannt. |
6 | Weitere deutschsprachige Informationsquellen zu Arzneimitteln außer den „Fachinformationen“ | Es wird aus Gutachtersicht erwartet, dass jeder Arzt auf dem aktuellen Wissenstand der Pharmakologie ist. Aus Gutachtersicht wird vorausgesetzt, dass jeder Arzt das Deutsche Ärzteblatt liest. Auch sollten jedem Arzt die für sein Fachgebiet relevanten Leitlinien der AWMF bekannt sein. Ebenso muss der Arzt über „relevante Rote-Hand-Briefe“ „des BfArM“ informiert sein. Der Arzneimittelrief und das Arzneitelegramm stellen weitere wichtige, allgemein verfügbare Informationsquellen über pharmakologische Inhalte ohne Interessenkonflikt dar. Die Nutzung der verschiedenen niederschwellig verfügbaren Informationsquellen durch den Arzt wird in pharmakologischen Begutachtungen regelmäßig zur Beurteilung von Verantwortlichkeiten herangezogen |
7 | Internetquellen | In der Beurteilung pharmakologischer Tatbestände spielen Internetquellen als „Argumente“ eine zunehmende Rolle. Aus Sicht des Gutachters solle man es wenn möglich vermeiden, sich auf Internetquellen zu beziehen; es sei denn, man bezieht sich auf seriöse Quellen wie das BfArM oder die AWMF. Zitiert man als Gutachter Internetquellen, so muss neben der Web-Adresse auch das Abrufdatum der Information angegeben werden; ferner ein Ausdruck (screen shot) der Quelle. In vielen Fällen stellen Internetquellen für die pharmakologische Begutachtung ein Problem dar, weil sich für fast jede Ansicht „Beweise“ finden lassen. In vielen Fällen ist jedoch unklar, wer die Internettexte verfasst hat (fehlende Angabe eines Autors) und ob sie einer Begutachtung unterzogen wurden. Eine wichtige Aufgabe des pharmakologischen Gutachters ist es, die von verschiedenen Seiten herangezogenen „Netzfunde“ kritisch zu überprüfen. Ohne die oben genannte Dokumentation sind Internetquellen für eine Begutachtung nicht zu verwerten. |
8 | Selbstmedikation | Regelmäßig unterschätzt wird die Bedeutung der Selbstmedikation in der pharmakologischen Begutachtung. Oft ist die Selbstmedikation im Vorfeld der Begutachtung nicht oder nur sehr unvollständig dokumentiert, weil den beteiligten Parteien überhaupt nicht bewusst ist, welchen Einfluss die Selbstmedikation auf die Beurteilung pharmakologischer Zusammenhänge haben kann. Selbstmedikation kann per se zu unerwünschten Wirkungen führen und über verschiedene Mechanismen die Wirkungen verschiedener Arzneimittel verstärken oder abschwächen. Nicht selten trägt der Patient durch eine Selbstmedikation eine Teilverantwortung für ein Schadensereignis. Es stellt sich dann die Frage, inwiefern der Hersteller des Arzneimittels oder der das Arzneimittel abgebende Apotheker den Patienten ausreichend informiert hat. Meist wird diese Frage nicht zu klären sein. |
9 | Nozebeowirkungen | In Schadensfällen spielen auch eine negative Erwartungshaltung und Suggestionen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Einfach ausgedrückt: „Wenn du negative Wirkungen erwartest, wirst du negative Wirkungen erfahren“. Nozebowirkungen sind häufig nicht objektivierbar und finden sich vor allem im psychischen Bereich. |
10 | Die Kunst der Kommunikation | Für die Aussage eines Gutachtens ist es entscheidend, dass präzise Begriffe der pharmakologischen Fachsprache verwendet werden. Da diese Begriffe jedoch meist für Laien und Juristen nicht verständlich sind, empfiehlt es sich, in allen Gutachten parallel zur Fachsprache auch die entsprechenden Begriffe aus der Laiensprache zu verwenden. Das trifft sowohl für schriftliche Gutachten als auch mündlich vorgetragene Gutachten zu. Aus Gutachterperspektive hat es sich bewährt, gerade in mündlichen Verhandlungen komplexe pharmakologische Sachverhalte durch im Vortrag angefertigte ad-hoc-Skizzen zu illustrieren. |
11 | Fehlendes pharmakologisches Grundwissen | Die Begutachtungspraxis hat (leider) gezeigt, wie gering das pharmakologische Grundwissen vieler Ärzte ist. Man beruft sich z. B. darauf, vor 40 Jahren studiert zu haben oder beruft sich auf die Therapiefreiheit. Solche „Argumente“ müssen regelmäßig aus Gutachtersicht entkräftet werden. In vielen pharmakologischen Begutachtungsfällen ist bereits Grundwissens des Medizinstudiums ausreichend. Außerdem geht es in vielen pharmakologischen Begutachtungsfällen nicht um neue Arzneimittel, sondern um solche, die seit vielen Jahren oder Jahrzehnten auf dem Markt eingeführt sind. Zudem sind sehr oft gerade häufig verschriebene Arzneimittel ein pharmakologischer Begutachtungsgegenstand. Entsprechend kann bei den Ärzten ein Grundwissen vorausgesetzt werden. |
12 | Die historische Dimension pharmakologischen Wissens | Gerade in der Pharmakologie ist der Wissensfortschritt enorm. Das lässt sich schon daraus ablesen, dass in jedem Jahr in Deutschland durchschnittlich über 30 neue Arzneimittel auf den Markt kommen und für viel altbekannte Arzneimittel neue Indikationsgebiete gefunden werden (drug repurposing). Zudem besteht oft ein langer (oft jahrelanger) Zeitraum zwischen dem Eintritt des Schadensereignis und der Begutachtung. Es ist daher erforderlich, zur Begutachtung eines pharmakologischen Tatbestandes den Wissensstand zum Zeitpunkt des Ereignisses zu Grunde zu legen. Dieser Aspekt muss bei der Auswahl der entsprechenden Literatur berücksichtigt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch die aktuelle wissenschaftliche Literatur in einem pharmakologischen Gutachten integriert wird. In den meisten Fällen ergeben sich gerade bei seit langer Zeit auf den Markt eingeführten Arzneimitteln keine fundamentalen Neubewertungen. |